Herbst 2020: Vor dem deutschen Zollgebäude in Stein/Bad Säckingen liegen die Nerven blank. Zwei Männer, beide wohnhaft im Aargau, stehen in der Schlange, um ihre Ausfuhrscheine abstempeln zu lassen. Auf dem Boden sind wegen der Pandemie Abstandsmarkierungen angebracht. Der damals Anfang 50-jährige Beschuldigte bittet den hinter ihm Wartenden, den Abstand einzuhalten.

Ohrfeige in der Warteschlage

Dann eskaliert die Situation. Denn der Hintermann, ein damals Mitte 50-Jähriger, bezeichnet den Beschuldigten gemäß Anklageschrift als „Kanaken“ und schlägt ihm mit der Hand ins Gesicht. Anschließend sagt er: „Wenn es noch etwas zu klären gibt, können wir uns auf dem Parkplatz treffen.“

40-Prozent-Behinderung auf Lebenszeit

Tatsächlich kommt es auf dem Parkplatz eines Imbisses in Stein zum erneuten Aufeinandertreffen der beiden Männer. Dort fährt der Beschuldigte – im Auto hat er seine Ehefrau und zwei Kinder – seinen auf dem Parkplatz stehenden Kontrahenten über den Haufen.

In Stein direkt gegenüber Bad Säckingen auf deutscher Rheinseite, überfuhr der Beschuldigte einen Mann mit dem Auto.
In Stein direkt gegenüber Bad Säckingen auf deutscher Rheinseite, überfuhr der Beschuldigte einen Mann mit dem Auto. | Bild: Maptiler

Dieser erleidet so schwere Verletzungen, dass der behandelnde Arzt von einer 40-Prozent-Behinderung auf Lebenszeit ausgeht.

Zunächst der Freispruch des Bezirksgerichts

Im März 2022 kam es zum Prozess gegen den Beschuldigten wegen versuchter schwerer Körperverletzung, einfacher Körperverletzung sowie Unterlassen der Nothilfe. Der Verteidiger stellte die Verwertbarkeit der Beweismittel – der Mann war aufgrund von einer Überwachungskamera am Zoll überführt worden – in Frage und argumentierte, sein Mandant habe in Notwehr gehandelt.

Tatsächlich sprach ihn das Bezirksgericht Rheinfelden von sämtlicher Schuld und Strafe frei. Denn es verneinte die Verwertbarkeit der Aufnahmen, durch welche die Strafbehörde auf den Beschuldigten aufmerksam wurde.

Dagegen legte die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg Berufung ein. Sie forderte für den Beschuldigten eine bedingte Freiheitsstrafe von elf Monaten, eine bedingte Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 160 Franken sowie eine Busse von 4000 Franken. Vor dem Obergericht in Aargau kam es zur Berufungsverhandlung.

Obergericht kommt zu einem anderen Schluss

Gemäss Obergericht gehen die Ausführungen der Vorinstanz zur Verwertbarkeit der Aufnahmen an der Sache vorbei. So sei unter anderem die Annahme, dass der Beschuldigte nicht anders – etwa nach einem Zeugenaufruf oder Spuren an seinem Auto – hätte eruiert werden können, abwegig.

Zudem könne offen bleiben, ob für die Verwendung der Aufnahmen zur Strafverfolgung die nötige gestützte Grundlage vorgelegen hat oder nicht. “Denn es sind auch Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, verwertbar, wenn dies zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist.„ Und dies sei aufgrund der konkreten Schwere der versuchten schweren Körperverletzung vorliegend der Fall.

Das Gutachten ist eindeutig

Die Ausführungen des Beschuldigten, dass das Opfer vor dem Auto stehend ihm mit der Faust auf die Motorhaube geschlagen habe, er daraufhin flüchten wollte und es dabei nur im Zuge einer Anfahrgeschwindigkeit zum Kontakt gekommen sei, hält das Obergericht für nicht schlüssig. Dies, weil sie in elementarster Weise dem Verkehrsgutachten widersprächen, das eine Kollisionsgeschwindigkeit zwischen 27 und 35 Stundenkilometern attestiert.

So sei gemäß Gutachten das Opfer durch den Anstoß an dessen Beine mit der Körperfront auf die Motorhaube geschlagen. Dabei habe er versucht, sich mit den Händen auf der Motorhaube abzustützen. „Die Spuren vom Abstützen mit den Händen im Moment der Kollision sind eine Abwehrhandlung und weisen auf einen sehr dynamischen Vorgang hin“, heißt es weiter.

Gemäß rechtsmedizinischem Gutachten hätten durch den Aufprall, das Aufladens und das Abwerfen beim Opfer schwerwiegende oder tödliche Verletzungen entstehen können. „Insofern hat sich der Beschuldigte mit seinem Handeln gar der eventualvorsätzlichen Tötung angenähert“, befindet das Obergericht.

Das Urteil des Obergerichts

Den Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine bedingte Freiheitsstrafe von elf Monaten erachtete das Obergericht vor dem Hintergrund der Anklage als sehr mild.

Es sprach den Beschuldigten wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Unterlassung der Nothilfe schuldig und verurteilte diesen zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten mit einem vollziehbaren Anteil von einem Jahr.

Zudem erhielt der Beschuldigte eine bedingte Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 150 Franken und die erstinstanzlichen Verfahrenskosten von 17.376 Franken auferlegt.

Der Autor ist Redakteur der „Aargauer Zeitung“. Dort ist dieser Beitrag auch zuerst erschienen.