Die Sonne scheint, kaum Wolken am Himmel und ein leichter Wind von Südosten: ein perfekter Tag zum Wandern. In Urnäsch müssen Wanderinnen und Wanderer schon früh am Morgen anstehen, um einen Platz im Postauto zu bekommen.
Während der Zug aus Gossau noch auf dem Gleis steht und die Bahn aus der Gegenrichtung gerade eingefahren ist, dauert das einem Wanderer zu lang: Er entscheidet sich, unter den Bahnschranken hindurch zu schlüpfen, um zum Postauto zu rennen. Die Leute schütteln die Köpfe. Rund hundert andere Wanderer schauen zu, fragen den Mann nachher: „Was sollte denn diese Aktion gerade?“ Keine Antwort, nur beschämtes Schweigen.
Oben bei der Schwägalp trennen sich die Wege der Ausflügler. Während einige gleich emsig bergauf hetzen und schnell außer Sichtweite sind, stehen einige Touristen herum und fotografieren das Bergmassiv. Ein Mann aus Indien zeigt auf den Säntis und fragt: „Seealpsee, this way?“ Eine junge Frau erklärt ihm einen möglichen Weg zum beliebten See. Der Tourist entscheidet sich schließlich für eine Fahrt mit der Seilbahn.
Auf dem Säntisgipfel genießen an diesem Morgen viele Leute die Aussicht und bewundern das Panorama und die Berge rundherum. Das Berggasthaus „Alter Säntis“ ist gut besucht, an vielen Tischen gibt es nur zwei Themen: die zwei tödlichen Wanderunfälle beim Aescher Mitte Juli und die Höhlenrettung unweit des Zwinglipasses.

Kaum werden die Themen angesprochen am Tisch, ruft einer, der mit dem Fernglas zum Lisengrat schaut: „Wo zum Teufel will denn dieser Wanderer hin? Der ist völlig auf dem falschen Weg.“ Ein älterer Mann mit Wanderstöcken geht unsicher abseits des Bergwanderwegs hin und her. Er sucht nach dem Weg auf dem felsigen Grat. Den Zuschauern stockt der Atem: „Da kann man gar nicht zuschauen, das isch gspunne!“

Der Lisengrat ist ein beliebter Bergwanderweg, der den Säntis mit dem Rotsteinpass verbindet. An vielen Stellen sind die Wege exponiert und beidseitig mit Stahlseilen als Handlauf gesichert. Der verirrte Wanderer findet schließlich zum Alten Säntis und fragt völlig außer Atem: „Bin ich hier bei der Tierwis?“
Der Mann wollte am Lisengrat schnell ein Foto machen. Diese Idee hat ein anderer Wanderer in der Gegenrichtung wohl auch: Von der Aussichtsplattform am Säntis kraxelt er auf allen vieren auf den Felsen bergab. Steigt planlos und verunsichert auf und ab.
Der Wanderweg liegt etwa 50 Meter weiter unter ihm. Andere Wanderer rufen dem Mann zu, er solle umdrehen. Nach einigen Irrläufen tut er das schließlich und klettert wieder zum Säntis hinauf.
Auf dem Weg vom Säntis zum Lisengrat schauen zwei junge Frauen mit ihren Feldstechern dem verirrten Wanderer zu, wie er wieder bergauf geht. Sie schütteln die Köpfe und sagen: „Der ist wenigstens einsichtig. Hinter uns kommt gleich eine Frau in Flip-Flops den Lisengrat hinauf. Das glaubt man gar nicht!“
Kurz darauf kommt die Frau in den Flip-Flop-Sandalen tatsächlich vom Rotsteinpass her angelaufen. Sie hat die Hälfe des Lisengrats bereits zurückgelegt. Sie macht mühsam einen Schritt nach dem anderen. Neben ihr geht es einige hundert Meter in die Tiefe.
Auf ihr Schuhwerk angesprochen, sagt sie: „Ich will keine warmen Füße bekommen. Zudem kann ich selber entscheiden, was ich mir für Schuhe anziehe.“ Einige entgegenkommende Wanderer schimpfen mit der Frau, zeigen auf den Helikopter, der gerade über den Alpstein fliegt – sie macht keine Anstalten, sich zu rechtfertigen. Schließlich geht sie weiter: „Ich mache das schon immer so.“

Nur einige Kilometer Luftlinie entfernt fliegt die Rega, die Schweizerische Rettungsflugwacht, einen Einsatz: Der Helikopter schwebt über dem Hundstein und fliegt immer wieder zur Meglisalp hinunter.

Auf Nachfrage heißt es bei der Rega: „Derzeit sind wir wirklich sehr gefragt. Eine Rega-Crew hat vier Personen vom Hundstein geholt. Sie waren vom Wanderweg abgekommen, kamen im sehr steilen Gelände nicht mehr weiter und alarmierten die Rega-Einsatzzentrale. Die vier Personen wurden nacheinander an der Rettungswinde unterhalb des Rega-Helikopters ausgeflogem.“
Zahlen zur Häufigkeit solcher Einsätze weist die Rega nicht aus. Auch will die Sprecherin der Rettungsflugwacht, Corina Zellweger, das Verhalten der Wanderer in den Bergen nicht kommentieren: „Wir urteilen nicht über die Art und Weise, wie Menschen in Notlage gekommen sind. Die Rega ist für alle Menschen in Notlagen da.“ Im vergangenen Jahr hatten schweizweit 30.000 Menschen einen Wanderunfall.