Die Lokführergewerkschaft GDL und die Deutsche Bahn haben sich im monatelangen Tarifstreit geeinigt und Erleichterung dürfte bei dieser Nachricht Millionen deutsche Bahnkunden erfassen. Im Kreis Konstanz, auf der Strecke zwischen Engen und Konstanz, gehörte man dabei nicht einmal zu den Hauptleidtragenden der Dauerstreiks: Denn der Seehas wird von den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) betrieben und fuhr zuverlässig, während in anderen Teilen der Republik der Bahnverkehr stillstand.

Warum fahren aber eigentlich die SBB so verlässlich, während die Deutsche Bahn nicht nur von Infrastrukturmängeln, sondern auch von steten Arbeitskämpfen ausgebremst wird? Antworten gibt‘s unter anderem bei den Gewerkschaften der Lokführer in der Schweiz: Hubert Giger, Präsident des Verbands Schweizer Lokomotivführer (VSLF), hat eine klare Meinung dazu: „In der Schweiz gibt es eigentlich keine Streikkultur“, sagt er.

Was bedeutet das? In Deutschland oder auch in Frankreich beispielsweise stehen sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände eher unversöhnlich gegenüber. Sie empfinden sich gegenseitig als Feinde oder jedenfalls als eine Gruppierung, die weit entfernt von den eigenen Interessen agiert. In der Schweiz sei dies anders. Zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen herrsche eine Sozialpartnerschaft. „Ein wichtiger Teil des Erfolgs der Schweiz ist der soziale Frieden“, sagt Giger.

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Hanny Weissmüller, Zentralpräsidentin des Schweizerischen Eisenbahner- und Lokomotiv-Personal Verband (SEV LPV), ergänzt einige Gründe, warum es in der Schweiz nicht zum Streik kommt: „Wir haben einen Gesamtarbeitsvertrag, der über 20 Jahre lang Gültigkeit hat. In diesem ist ein Streikverbot festgelegt“, erläutert sie.

Der Gesamtarbeitsvertrag (GAV) entspricht in etwa dem deutschen Tarifvertrag, weist aber Besonderheiten auf, die es so in Deutschland nicht gibt. Zum einen gilt der GAV für alle Personengruppen, die in der Fläche bei der Eisenbahn arbeiten – es gibt keine einzeln ausgehandelte Tarifverträge pro Gewerkschaft wie in Deutschland.

Hanny Weissmüller, Zentralpräsidentin der Gewerkschaft SEV Lokpersonal in der Schweiz, ist selbst Lokführerin. Nach ihrem Geschmack ...
Hanny Weissmüller, Zentralpräsidentin der Gewerkschaft SEV Lokpersonal in der Schweiz, ist selbst Lokführerin. Nach ihrem Geschmack könnten Schweizer Arbeitnehmer etwas kämpferischer sein. | Bild: SEV LPV

Sozialpartner statt Gegner

Der zweite Unterschied ist die Haltung gegenüber der Aufgabe, Arbeitsbedingungen und Löhne miteinander auszuhandeln. Wie Hubert Giger betont auch Hanny Weissmüller: „Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in der Schweiz begreifen einander als Sozialpartner.“ Der Weg der Verhandlung ist dabei klar vorgezeichnet: Es gibt regelmäßige Treffen von Gewerkschaft, in diesem Fall SEV LPV und VSLF auf der einen und der SBB auf der anderen Seite.

„Mit SBB Cargo bin ich beispielsweise viermal im Jahr im Gespräch. Sie haben jetzt ein neues Projekt begonnen und wir wurden von Beginn an eingebunden.“ Sollte trotz des beständigen Dialogs ein Konflikt nicht geklärt werden können, dann müssen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband vors Schiedsgericht. Erst wenn auch dieses die Frage nicht lösen könne, habe eine der Parteien (oder beide) das Recht, den GAV zu kündigen. In der Praxis komme dies aber kaum vor.

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Ebenso ritualisiert sind die Lohnverhandlungen in der Schweiz. Sie fänden jedes Jahr regelmäßig nach der Sommerpause statt, berichtet Weissmüller. Von Beginn an stehe fest, wie viel Geld zu verteilen sei – und dann einigten sich Gewerkschaften und Arbeitgeber zu den Details.

Hubert Giger bestätigt das: Der Staat als Eigentümer der Eisenbahn würde in der Schweiz nicht zulassen, dass ein Konfliktthema nicht auf dem Verhandlungsweg geklärt werde. Ein weiterer Unterschied zu Deutschland sei, dass der Staat ausreichend Mittel bei der SBB einsetze und es einen hohen Standard bei den Arbeitsbedingungen gebe.

Das verdient ein Schweizer Lokführer

Und wie viel verdient ein Lokführer in der Schweiz? Wie in allen Branchen hängt der Verdienst von dessen Erfahrung ab. Beim Lokpersonal gebe es einen festgelegten Lohnaufstieg, erläutert Weissmüller. Das heißt, der Lokführer erhält jedes Jahr eine festgelegte Lohnsteigerung bis zu einem Maximum von 105.000 Schweizer Franken nach zehn Jahren. Bei anderen Berufsgruppen werde die Lohnsteigerung jedes Jahr verhandelt.

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41 Stunden Arbeit pro Woche

Ein großer Unterschied zwischen der Schweiz und Deutschland liegt bei der Arbeitszeit. Während die deutschen bei der GDL organisierten Lokführer monatelang eine 35-Stunden-Woche einforderten, scheint die 41-Stunden-Woche in der Schweiz einigermaßen unumstritten zu sein.

Das erfreut ein Gewerkschafter-Herz nicht immer, wie Hanny Weissmüller deutlich macht. Niemand stelle die 41-Stunden-Woche in Frage und es sei für Lokführer zudem üblich, sechs Tage am Stück zu arbeiten. Hanny Weissmüller sieht das kritisch, es sei auch eine Frage der Sicherheit, wenn etwa ein Lokführer wegen Übermüdung einen Unfall verursache.

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Überstunden aufs Zeitkonto sammeln

„Aber wir Schweizer sind alle Eichhörnchen“, sagt sie und lacht. Die Arbeitnehmer liebten es, Überstunden auf Zeitkonten anzusparen und zu einem günstigen Zeitpunkt länger Urlaub zu nehmen. Und die Arbeitgeber nutzten dies, um ihre Ziele zu erreichen. So strebe die SBB einen Viertelstundentakt auf den meisten Strecken an, das aber führe zu einem Mangel an Lokführern, den man nur über Mehrarbeit beheben könne. Für die Lokführer entstünden so sehr lange, ermüdende Schichtarbeitstage.

Dass nicht gestreikt und wenig gefordert wird, ist laut Weissmüller auch Sache der Mentalität. „So kämpferisch sind wir Schweizer nicht. Schweizer zu mobilisieren, ist schwierig.“ Eher suchten sich Arbeitnehmer Ausweichstrategien, um trotzdem zu mehr Lebensqualität zu kommen. Viele junge Lokführer versuchten daher, Teilzeit zu arbeiten und dadurch die Belastung zu reduzieren. Manche, die zuvor einen anderen Beruf gelernt hätten, gingen zuweilen in diesen zurück, wenn die Belastung zu groß werde.

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Aber was bedeutet das für die Lokführer der SBB Deutschland, die im Auftrag der SBB auf der Strecke zwischen Engen und Konstanz fahren? Für die vergangenen Jahre gilt: Auch die SBB Deutschland wurde über einen langen Zeitraum nicht bestreikt, wie Daniel König, Sprecher der SBB Deutschland, auf Anfrage berichtet.

Der Tarifvertrag der SBB Deutschland werde zwischen einer Tarifkommission und der Geschäftsleitung der SBB Deutschland geschlossen und habe eine Laufzeit von meistens zwei Jahren. An der Tarifkommission sind auf Arbeitnehmerseite Mitarbeiter, also Lokführer und Zugbegleiter beteiligt, keine Gewerkschaften. Zu Lohnfragen und Arbeitsbedingungen will sich die SBB Deutschland aus wettbewerbstechnischen Gründen nicht äußern.