Sicher ist, dass das Ehepaar Heinrich und Magdalena Haas nicht mit Besuch gerechnet hat. Wo die beiden leben, kommt selten Besuch hin, und im Winter schon gar nicht. Heinrich Haas ist im Februar 1922 der Wetterwart auf dem zugeschneiten, vereisten, oft sturmumtosten Gipfel des Säntis. Eine Winterbesteigung des 2500 Meter hohen Alpenberges ist lebensgefährlich.
Trotzdem steht er am 16. Februar 1922 plötzlich vor der niederen Türe des Steinhauses, genannt „Felsenburg“: der unheimliche Gast. Er heißt Gregor Kreuzpointner und ist ein alter Bekannter aus dem Tal. Sportlich, als Bergsteiger und Skifahrer, ein As; geschäftlich, als selbstständiger Schuhmacher, ein Bankrotteur und permanent in großer Geldnot. Da ist er. Und er geht nicht mehr fort. Was will er?
Fünf Tage später, am 21. Februar 1922, sind Heinrich und Magdalena Haas, der untadelige Wetterwart und seine tüchtige Frau, tot. Erschossen mit Kreuzpointners Browning-Pistole. Der Doppelmord geschah, das ergibt die Rekonstruktion am Tatort in eisiger Höhe, bald nach dem Mittagessen. Offensichtlich hatten es Täter und Opfer noch gemeinsam eingenommen.

Die Leiche der Magdalena Haar wird im Erdgeschoss der Wetterwarte gefunden, die ihres Mannes draußen im Schnee vor dem Windmesshäuschen. Kurioserweise liegt der tote Wetterwart exakt auf der Grenze zwischen den Kantonen Appenzell Innerrhoden und St. Gallen, was den Fall administrativ verkompliziert.
Gregor Kreuzpointner ist flüchtig und hetzt die letzten Tage seines Lebens kreuz und quer durch die Ostschweiz und am Bodenseeufer entlang, stets auf der Suche nach einer Geldquelle und in Furcht vor Verhaftung. Eine Bekannte bringt er dazu, Schmuck und Uhr des Wetterwart-Paares zu versetzen.
Am 4. März begeht Kreuzpointner in einer Hütte im Oberen Aueli nahe der Schwägalp Suizid durch „atypisches Erhängen“. Das Drama um den Doppelmord auf dem Säntis bleibt einer der spektakulärsten Kriminalfälle der Schweiz.
Wie bei Stephen King
Zwei Männer und eine Frau unerreichbar auf einem zugeschneiten Alpengipfel. Konflikt, Streit, Kampf, Meuchelmord. Ein Stoff für Stephen King. Vieles ist bekannt über Opfer und Täter. Aber eben nicht, was in den fünf Tagen auf dem Säntis geschah.
Belegt ist, dass Magdalena Haas über das Telefon erzählte, Kreuzpointner sei völlig überraschend in der Wetterwarte erschienen. Er wolle aber nicht, dass das bekannt werde. Auch vier weitere Telegramm- und Telefonbotschaften vom Säntisgipfel gaben im Tal durchaus Anlass zur Beunruhigung. Der ungebetene Gast wolle nicht mehr fort, obwohl das Wetter inzwischen den Abstieg zulasse, teilte Frau Haas mit. Was war da los?
Ja was? In seinem Film „Der Berg“ erzählte der Schweizer Erfolgsregisseur Markus Imhoof 1990 eine Version der Geschichte. Eine Geschichte von Neid, Verachtung, Gehässigkeit und Niedertracht. Sie beginnt damit, dass Haas (im Film: Manser) bei der Vergabe des Wetterwart-Postens mit nicht ganz lauteren Mitteln den Konkurrenten Kreuzpointner aussticht, was der ausgesprochen übelnimmt.
Tatsächlich bewarb sich Gregor Kreuzpointner um den begehrten, weil gut bezahlten Posten auf dem Säntis. Von einer Intrige des Heinrich Haas ist allerdings nichts bekannt. Und dass Kreuzpointner der Frau des Wetterwarts auf den Gipfel nachgestiegen sein soll, ist höchstwahrscheinlich ein reines Film-Motiv.
Vermutlich war das Mordmotiv schlichter. Der Schweizer Historiker Achilles Weishaupt hat für sein pünktlich zum Jahrestag erscheinendes Buch „Säntismord“ (Appenzeller Verlag) den Kriminalfall akribisch recherchiert. Es sei ihm darum gegangen, hinter die vielen Legenden und Gerüchte um die Bluttat zu schauen, sagt Weishaupt im Gespräch mit dem SÜDKURIER.
Er glaubt, Kreuzpointner sei des Geldes wegen im Winter 1922 auf den Säntis geklettert. Der als Menschenfreund bekannte Heinrich Haas sei ihm die letzte Hoffnung gewesen. Das genügsam lebende, gut verdienende Wetterwart-Ehepaar galt als reich.
Möglicherweise suchte der von Gläubigern und der Justiz verfolgte Bankrotteur auf dem Berg ein bisschen Ruhe und Abstand von seinen geschäftlichen Misserfolgen, Verständnis und Zuspruch vom Ehepaar Haas, endlich mal wieder reichliche Mahlzeiten und – vor allem – die freundliche Zusage finanzieller Hilfe.
Die Felsenburg als letzte Zuflucht. Die Eheleute Haas als Retter in der Not. Möglicherweise lief es dann völlig anders als geplant. Möglicherweise forderten die Haasens, statt freudig zu geben, Geld für Kost und Logis dieses Kuraufenthalts. Möglicherweise. Was wirklich geschah, warum die Situation am 21. Februar 1922 eskalierte – niemand weiß es.
Wer war Gregor Kreuzpointner?
Wie so oft ist der Täter die interessanteste Figur: Gregor Kreuzpointner, ein gebürtiger Bayer, der seit 1911 in der Schweiz lebte und 1914 rasch – manche raunten: verdächtig rasch – eingebürgert wurde, was ihm den deutschen Militärdienst im Ersten Weltkrieg ersparte.
Im Raum steht, dass er die schnelle Einbürgerung einflussreichen Bürgern aus St. Gallen und Umgebung zu verdanken hatte, die ihn ob seiner bergsteigerischen Fähigkeiten bewunderten und gerne mit ihm prahlten „wie mit einem guten Pferde“, so ein Zeitzeuge.
Die Sportskanone Kreuzpointner, so scheint es, bewegte sich in Kreisen, die er sich eigentlich nicht leisten konnte. Sein Traum war wohl, vom Bergsport leben zu können. Wann immer ein Alpengipfel lockte, war Schuhmacher Kreuzpointner sofort bereit, Hammer und Sohle fallen zu lassen.
Das rächte sich bitter. Zwei Anläufe als selbstständiger Schuhmachermeister, in Herisau und in St. Gallen, endeten in Konkursen. Er hatte Schulden, der Pleitegeier wurde Kreuzpointners ständiger Begleiter. Aktenkundig ist auch eine Verurteilung, weil er dem eigenen Lehrling 50 Franken gestohlen hatte.
„Eine Hölle von Ichsucht“
In seinem Buch schreibt Achilles Weishaupt, Kreuzpointner sei von einem Gipfelfieber befallen gewesen, „das durchaus mit einer Sucht zu vergleichen war“. Ein Bergkamerad, der mit Kreuzpointner etliche Touren unternommen hatte, attestierte ihm ein ausgeprägtes ichbezogenes Verhalten und eisige Gleichgültigkeit. Er habe „in eine Hölle von Ichsucht hinein“ geschaut, so der Zeitzeuge.
Vorrang hatte bei ihm stets die Erfüllung seiner Kletterwünsche. Wer mit ihm nicht mithalten konnte, den verachtete er als Versager. Solche Leute stecken Niederlagen ganz schwer weg. Insofern ist Kreuzpointner in Imhoofs Spielfilm ganz gut getroffen.
Auch Heinrich Haas war ein begeisterter und talentierter Bergsteiger, allerdings einer weitaus sympathischerer. Seit 1919 fungierte er, unterstützt durch seine Frau Magdalena, als Wetterwart auf dem Säntis. Es war ein hartes Leben, oft abgeschnitten von der Welt auf sturmumtostem Gipfel, aber die Eheleute kamen wohl gut zurecht und genossen die Reize ihres exponierten Arbeitsplatzes.

„Zum Sterben schön“ sei es auf dem Säntis, sagte Wetterwart Haas einmal. Bertha und Helena, die beiden Töchter der Haasens, lebten die meiste Zeit in Brülisau bei der Oma.
Belegt ist, dass sich Täter und Opfer schon eine Weile kannten. Es existiert ein Foto, das Kreuzpointner und das Ehepaar Haas zusammen mit Bergkameraden im Schnee vor dem Wettermesshäuschen zeigt – am Tatort, gut ein Jahr vor der Tat.
Christoph Nix ist unzufrieden
„Was der Berg mit einem macht“ ist das Thema, das auch Christoph Nix gereizt hat. Nix, von 2006 bis 2020 Intendant am Stadttheater Konstanz, schrieb das Libretto zur Oper „Mord auf dem Säntis“, die im Juni 2011 uraufgeführt wurde – passenderweise auf dem Säntisgipfel.
Allerdings ist Nix auch ein bekannter Strafverteidiger, und als solcher ist er mit seinen Recherchen nicht ganz zufrieden. „Ich hätte gerne mehr geklärt“, sagt er im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Auch – oder gerade – nach dem Studium der Kriminalakten sind für ihn Fragen offen.
Die Ursache einer winzigen Einstichstelle an Kreuzpointners Körper sei nicht ermittelt worden, auch habe es im Umfeld einen weiteren geheimnisvollen, ungeklärten Mord an einem Telegraphenmitarbeiter gegeben. Bestehen da Zusammenhänge? Welche? Für Nix bleibt der Doppelmord auf dem Säntis eine „ungeklärte Kriminalgeschichte“.
Er erinnert sich mit einiger Freude, wie pikiert bei der Premiere einige Honoratioren reagiert hätten, als er in seiner Oper die Frage stellte, was aus dem Geld geworden sei, das seinerzeit für die Kinder des ermordeten Wetterwart-Paares gespendet wurde.
Keiner wollte Kreuzpointner beerdigen
Korrekterweise müsste man vom mutmaßlichen Mörder Gregor Kreuzpointner sprechen. Es gab kein Geständnis, keinen Prozess, kein Urteil. Die Indizien jedoch sind überwältigend. Die Gemeinden am Fuße des Säntis weigerten sich, Kreuzpointner zu beerdigen. Die Leiche wurde der medizinischen Fakultät der Universität Zürich zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt.
Ab dem 21. Februar, mittags, kamen keine Wetterdaten mehr vom Säntis. Das Wetter war schlecht, der Gipfel unerreichbar. Erst am 25. Februar wagten zwei Säntisträger, Vater und Sohn Rusch, den Aufstieg. Sie wunderten sich, dass kein Rauch aus dem Kamin der Wetterwarte quoll.
Die Stube fanden sie verwüstet vor. Hund Sturm, eingesperrt, rasend und halb verhungert, hatte das Mobiliar zerlegt. An der Wand, nahe des Telefons, lag die Leiche der Magdalena Haas. Der Tod traf sie unerwartet. Offenbar werkelte sie an ihrem Stickrahmen, als die tödliche Kugel sie traf.