Die Sonne brennt auf den Asphalt an einem heißen Augusttag, von Menschen und Fahrzeugen keine Spur. Hier fährt kein Auto oder doch so gut wie keins. Der Parkplatz vor der Schranke ist leer. In einem Container duftet es nach Landjäger und Salami, Peter Gutmann, Mitarbeiter eines Sicherheitsdiensts, macht Mittag. Zeit dazu hat er. Die Schicht, die noch bis 21 Uhr dauern wird, ist erst ein paar Stunden alt. Dass er noch viel zu tun bekommt, ist nicht zu erwarten. „Ich hänge meinen Gedanken nach“, sagt er und man glaubt es ihm.

Die Straße, die hier von einer Schranke unterbrochen wird, führt nach Brienz. Das Dorf im Zentrum Graubündens, das in den vergangenen neun Monaten von keinem Fremden mehr betreten wurde. Wo niemand mehr übernachtet. Nur die Bewohner dürfen sich dort aufhalten, zwischen 9 und 21 Uhr, streng durch Ausweiskontrolle überwacht – und nicht an allen Tagen.
Zweite Evakuierung im November 2024
In dem Dorf, in dem etwa 80 Personen einen Erst- und 200 einen Zweitwohnsitz haben, ging in der Nacht zum 16. Juni 2023 ein Erdrutsch nieder. Seither ist nichts mehr, wie es war. Die Bewohner wurden rechtzeitig evakuiert, nach einigen Wochen durften sie in ihre Häuser zurück. Seit 17. November 2024 ist es erneut vorbei mit der Heimat im Dorf: Alle Einwohner wurden zum zweiten Mal evakuiert und mussten sich in Ferienwohnungen oder Wohnungen eine Bleibe suchen.

Die Straße zweigt kurz hinter dem Dorf Surava ab und führt an der Burgruine Belfort vorbei, bevor man zum Checkpoint gelangt. Hier wartet Werner Roth, einer der Bewohner von Brienz, um von Peter Gutmann durchgelassen zu werden. Wenn Name und Uhrzeit notiert sind, dürfen die Bewohner passieren. Das System dient der Sicherheit: Sollte der Berg tagsüber ins Rutschen und jemand in Gefahr kommen, wüsste man Bescheid, nach wem man suchen müsste.

Werner Roth hat sich zum „Zügeln“ entschieden
Werner Roth ist einer der Brienzer, die die Aufenthaltsmöglichkeit am Tag gern nutzen. „Wir sind am Zügeln“, sagt er. Zügeln ist Schweizerdeutsch für Umziehen. Die Viereinhalb-Zimmer-Wohnung, die er mit seiner Frau bis November 2024 bewohnte, wird stückweise geleert: Ein Sofa etwa geht an die Familie seiner Tochter.

Bis zum Entschluss, den Wohnsitz aufzugeben, war es ein langer Weg. Im Gegensatz zur ersten Evakuierung 2023 blieben die Behörden beim zweiten Mal ab November 2024 reserviert mit Angaben, wann die Brienzer wieder in ihre Häuser zurückkehren können. Werner Roth besitzt ein Mehrfamilienhaus mit Werkstatt im Dorf, ein umgebautes Bauernhaus. Nach der Evakuierung verzichten als Erstes seine Mieter darauf, die Miete weiterzuzahlen – schließlich können sie dort nicht mehr wohnen. Als Roth sie nach Monaten darauf hinweist, dass das Lagern der Möbel nicht kostenfrei sei, kündigen sie.
Geld und Heimatgefühl gehen verloren
Finanziell trägt das Konzept nun nicht mehr. Die Liegenschaft sei so konzipiert gewesen, dass die Mieteinnahmen die Hypothek mitfinanzieren, zudem Rückstellungen ermöglichen für Sanierungen. Neben den finanziellen Engpässen verliert Werner Roth mit jedem Monat, der vergeht, an Heimatgefühl. Die Dorfgemeinschaft in Brienz, einst intakt, habe sich „etwas entzweit“, sagt der Brienzer in gewohntem Schweizer Understatement. Zwar gebe es keinen Neid untereinander, wohl aber unterschiedliche Positionen gegenüber den Behörden.
Es gebe drei Gruppen: Eine, die zum Wegzug bereit sei, die zweite, die bleiben wolle – fast um jeden Preis. Zu dieser gehören die Landwirte, die einen Neuaufbau ihres Betriebes an anderer Stelle kaum als realistisch ansehen. Eine dritte Gruppe sei bereit, Brienz zu verlassen, kritisiere die Behörden aber scharf für die aus ihrer Sicht zu geringe Entschädigung. Bei Gemeindeversammlungen sei der Gegenwind gegen die Verwaltung zu spüren: „Das geht bis an den Rand der Ehrverletzung“, sagt Roth.
Im April 2025 teilt Werner Roth Daniel Albertin, dem Gemeindepräsidenten von Albula, zu dem Brienz gehört, mit, dass er seinen Wohnsitz aufgeben werde. Er und seine Frau haben eine neue Wohnung zum Kauf in Schriens (Prättigau) gefunden. Die Gebäudeversicherung, die einen Teil der Entschädigung für das Anwesen in Brienz übernimmt, zahlt Geld aus, so dass eine Überbrückungsfinanzierung für den Erwerb möglich wird.
Gemeindepräsident managt die Krise seit Jahren
Daniel Albertin, Gemeindepräsident von Albula/Alvra, sitzt in seinem Büro in Tiefencastel. Um ihn herum stapelweise sortierte Dokumente, ansonsten ist es am Feiertag still im Gebäude. Ihn treibt so manches um, oft geht es um seine Brienzer Bürger. Für viele sei es im vergangenen November nicht einfach gewesen, eine Bleibe zu finden. „Sicher hat noch niemand Wurzeln geschlagen. Die meisten haben die Hoffnung, nach Brienz zurückzukehren – oder an einen Umsiedlungsstandort.“
Mit jedem Monat, den die Evakuierung andauert, schwindet ein Stück Zuversicht. „Die Evakuierung ist so zermürbend, dass man die Hoffnung auf Rücksiedlung verliert“, sagt Albertin. Deshalb geht die Gemeinde nun zweigleisig vor: Zum einen versucht eine Firma, die Erdrutschung mittels eines Entwässerungsstollens zu stabilisieren. Zum anderen bereitet die Gemeinde eine Umsiedlung vor – für alle Brienzer, die jetzt eine dauerhafte Perspektive brauchen.
Eine Umsiedlung in der Dimension gab es noch nie in der Schweiz
Drei Standorte für eine neue Heimat gibt es: einen in Alvaneu, einen in Tiefencastel und einen dritten in Vazerol, alle in der Nähe des Dorfes. Es habe lange gedauert, die raumplanerischen Voraussetzungen für die Umsiedlung zu schaffen, räumt der Gemeindepräsident ein, manchen Bewohnern viel zu lang. Eine Umsiedlung in dieser Dimension sei auch in der erdrutschgeübten Schweiz bislang einzigartig. Jetzt aber sei man so weit.

Vermutlich könne man die meisten Umsiedlungswilligen in Vazerol unterbringen. Die Bewohner von Brienz – Einheimische und „Zweitheimische“, also Bewohner mit Zweitwohnsitz am Ort – bekämen somit im Jahr 2027 Baurecht. Ob sie damit zufrieden sein werden? Der Gemeindepräsident zuckt mit den Schultern. Etwa ein Drittel der rund 80 Bewohner sei bereit, in Gespräche über eine Umsiedlung einzutreten. Ob sie diese dann anstreben, sei längst nicht ausgemacht.
Aufwendige Entwässerung macht Hoffnung
Die andere Lösung, die geologische, ist nicht weniger kompliziert. Das Bergdorf ist von zwei Problemen betroffen: zum einen vom Erdrutsch am Berg, der am 16. Juni 2023 geschah und der „jederzeit wieder passieren kann“, wie Daniel Albertin sagt. Das zweite Phänomen betrifft das Dorf selbst, das langsam, aber merklich ins Tal abrutscht. „In dieser Hinsicht sind wir ein Stück vorangekommen“, berichtet Albertin. Noch vor gut einem Jahr habe sich das Dorf um zwei Meter und 45 Zentimeter bewegt, nun seien es nur noch etwa 50 Zentimeter. „Das gibt Hoffnung.“

Mitte 2024 wurden Arbeiten an einem etwa 2,3 Kilometer langen Entwässerungsstollen aufgenommen. Er soll den Untergrund, auf der Brienz steht, entwässern und die Rutschung des Dorfes verlangsamen. An dem Stollen, der laut Medienberichten rund 40 Millionen Franken kostet, wird weiter gebaut.
Zum Umzug zwingen will er die Dorfbewohner nicht
Seit elf Jahren kümmert sich der Gemeindepräsident um Albula mit den zugehörigen Dörfern. „Seit 2017 beschäftigt uns der Erdrutsch Brienz, dann kam Corona, jetzt sind wir wieder mit Brienz befasst“, sagt Albertin. Seit Jahren ist er der Herr der Krise. Eine klare Strategie könne er nach wie vor nicht bieten: Komme man mit dem Entwässerungsstollen voran, gebe es Hoffnung für Brienz. Zugleich gelte es, die Umsiedlung voranzutreiben. „Was wir jeweils forcieren, müssen wir der Bevölkerung erklären. Das ist herausfordernd.“
Daniel Albertin hat sich an den Krisenmodus gewöhnt, die Kompetenz wird ihm zugesprochen. Eigentlich will er aufhören als Gemeindechef, aber es gibt keinen Nachfolger. Dennoch: Kommendes Jahr soll Schluss sein. Was er sich für Brienz wünscht? Sicherheit für die Bewohner, sie wäre am ehesten bei der Umsiedlung gegeben. „Aber ist das auch, was die Brienzer wollen?“ Eine Rückkehr mit geringen Risiko, das wäre Albertins liebstes Szenario. „Ich würde die Bewohner nie zwingen wollen, das Dorf aufzugeben.“