Empfindlichkeit, Heuchelei, Selbstgefälligkeit: Von diesen drei Geißeln nährt sich eine gesellschaftliche Grundstimmung, die von Woche zu Woche hitziger, fanatischer anmutet. Der Empörungsmodus kennt keine Pausen mehr.

Fasnachtsreden auf dem Prüfstand

Mal sind es Fasnachtsreden über Doppelnamen oder Toiletten, dann wieder fragt jemand allzu forsch nach ethnischer Herkunft. Dieser äußert sich abfällig über Frauen, jener verkleidet sich als Indianer. Inzwischen sind wir bei den Gästelisten privater Hochzeits- oder Geburtstagsfeiern angelangt: Mesut Özil soll Erdogan eingeladen haben, Reinhold Beckmann wurde auf einer Party gesichtet, bei der auch ein Rechtsextremist zugegen war. Alles skandalös, alles ein Grund für öffentliche Abbitte.

Anspruch und Wirklichkeit

Nun wohnt jedem einzelnen dieser Vorwürfe ein Kern von Wahrheit inne. Doch klaffen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinander, oft scheint es kaum mehr möglich, dem moralischen Anforderungskatalog unserer Gesellschaft noch zu entsprechen.

Reaktion auf Exzess

Phasen übersteigerter Sittlichkeitsideale sind in der Geschichte schon immer auf Jahre des Exzesses gefolgt. Mit der Wiederentdeckung antiker Schönheitsideale schwelgten Renaissance-Maler wie Michelangelo noch in freizügigen Körperwelten. Nur wenig später plagte den Klerus das schlechte Gewissen: Man beauftragte Maler wie Daniele da Volterra damit, Michelangelos Nackte nachträglich mit Hosen zu bedecken.

Züchtig gekleidet: Der Prophet Elias in einer Darstellung des „Hosenmalers“ Daniele da Volterra.
Züchtig gekleidet: Der Prophet Elias in einer Darstellung des „Hosenmalers“ Daniele da Volterra. | Bild: Wikipedia

Heute gilt die Reaktion dem gesellschaftlichen Liberalismus. Der hatte nach 1968 unter Schlagworten wie „sexuelle Befreiung“ in der Tat manch fragwürdige Vorstellung von Toleranz etabliert. Die Erbarmungslosigkeit aber, in der das Pendel jetzt in die andere Richtung ausschlägt, gibt zum Staunen Anlass.

Gedichte überpinselt

Wo die Kirche einst Körper übermalte, werden heute Gedichte überpinselt (Eugen Gomringers „Avenidas“-Verse in Berlin), Schauspieler aus Filmen herausgeschnitten (Kevin Spacey), Musiker aus Radioprogrammen verbannt (Michael Jackson). Mal ist es die Kunst selbst, die als gefährlich gilt, mal geht es allein darum, moralische Fehlleistungen zu bestrafen. So oder so: Wir haben keinen Grund, die Hosenmaler des 16. Jahrhunderts zu belächeln.

Eugen Gomringers inzwischen wegen angeblichen Sexismus überstrichenes Gedicht „Avenidas“.
Eugen Gomringers inzwischen wegen angeblichen Sexismus überstrichenes Gedicht „Avenidas“. | Bild: Britta Pedersen

Rechtspopulisten sehen in dieser Bewegung ein linkes Phänomen. Sie irren: Geht es um geschwänzte Schulstunden durch Klimaproteste, sind sehr wohl auch Rechte groß im Erbsenzählen.

Schülerproteste gegen den Klimawandel in Berlin.
Schülerproteste gegen den Klimawandel in Berlin. | Bild: Carsten Koall

Nicht der politische Zeitgeist ist schuld, sondern die gestiegene Empfindlichkeit. Im digitalen Zeitalter genügt ein Tweet oder Post, um schon bei kleinsten Zumutungen Mitleid, Zuwendung und Anerkennung zu heischen. Und selten war das angenehme Gefühl der eigenen moralischen Überlegenheit so billig zu haben wie auf den daraus resultierenden Empörungswellen.

Immer höhere Standards

Die Gesellschaft reagiert auf diese Wellen mit immer höheren Gerechtigkeitsstandards. Doch diese machen oft alles nur noch schlimmer. Etwa, wenn es um Gleichberechtigung geht.

Quote führt zu Diskriminierung

Der Brandenburger Landtag hat im Bemühen um dieses erstrebenswerte Ziel eine Geschlechterquote eingeführt – 50 Prozent Frauen, 50 Prozent Männer. Doch was der Gleichberechtigung dienen sollte, entpuppte sich als beispielloser Akt der Diskriminierung: Erstmals werden Menschen des dritten Geschlechts faktisch ausgeschlossen. Die Lösung dieses Problems sieht nun vor, dass die Betroffenen sich frei entscheiden, welcher Hälfte sie sich zuordnen möchten. Genau das setzt dem Ganzen nur die Krone auf: Ist die Anerkennung ihrer Identität außerhalb der Kategorien von männlich und weiblich doch gerade erst mühsam erkämpft worden.

Auf dem Weg zur Ständeversammlung

Der Staatsrechtler Udo di Fabio hält solche Gesetze im Namen der absoluten Gerechtigkeit sogar für verfassungswidrig. Es sei absehbar, dass bald auch eingebürgerte Migranten, Senioren oder andere Gruppen einen Anspruch auf Quote erheben würden. Am Ende hätte man statt eines demokratisch gewählten Parlaments eine Ständeversammlung. Alles nur, damit niemand ausgegrenzt wird.

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Auch in der Sprache zeigt sich, wie das Bemühen um Gerechtigkeit am Ende mehr Ausgrenzung bewirken kann. Eifrig bedient sich die politische Klasse der sogenannten gendergerechten Sprache. Weil das Deutsche angeblich strukturell sexistisch ist, üben sich Politiker bereits seit Jahren darin, selbst in kleinsten Halbsätzen sämtliche Geschlechter und Randgruppen der Gesellschaft aufzuzählen.

Umstrittene These

Die Sexismusthese ist in der Sprachwissenschaft umstritten. Doch wie auch immer die Angelegenheit fachlich zu bewerten ist: Anstelle von Gerechtigkeit ist Entfremdung eingetreten, und zwar zwischen dem Volk und seiner politischen Führung.

Schlicht unpraktisch

Zu den erstaunlichen Begleiterscheinungen der gendergerechten Sprache gehört nämlich, dass selbst ihre entschiedensten Befürworter sie im eigenen Alltag kaum anwenden. Sie ist schlicht zu unpraktisch.

Politische Wortgirlanden

Und so stehen die gendergerechten Wortgirlanden des Politikers im Widerspruch zu seinem Ansinnen, die Sprache seiner Wähler zu sprechen. Statt volksnah wirkt er abgehoben, lebensfern. Vor allem Bürger mit geringerer Bildung fühlen sich durch gestelzte Sprachkonstrukte wie „Mitbürgerinnen und Mitbürger“ ausgegrenzt statt mitgemeint.

Anspruch auf Allgemeingültigkeit

Mehr als die Versuche, eine gerechtere Welt zu erschaffen, nervt ihr Anspruch auf Alleingültigkeit. Ein Nebeneinander unterschiedlicher Praktiken und Meinungen wird kaum noch geduldet. Toleranz gegenüber abweichenden Verhaltensweisen weicht Pauschalurteilen: Auf Geburtstagsfeier in der Nähe eines Rechtsradikalen gesichtet? Nazi! Witz über Doppelnamen? Frauenfeind! Probleme mit der Ehe für alle? Homophob! Die so urteilenden Kritiker haben alle Tugenden fest im Blick. Nur eine nicht: die Kardinaltugend der Mäßigung.

Anstand ist nicht Korrektheit

Die Ursache beschreibt der Journalist Robin Alexander treffend anhand der Unterscheidung von Anstand und politischer Korrektheit. Der Anstand habe sich zum Ziel gesetzt, sein Gegenüber zu schonen. Die politische Korrektheit dagegen erhebe sich darüber: öffentliche Selbstbeweihräucherung statt diskrete Hilfsbereitschaft.

Existenzielle Folgen

Noch hat das Moralisieren nicht bedrohliche Ausmaße erreicht, wie wir sie von der Französischen Revolution oder der McCarthy-Ära kennen. Vorerst beschränken sich die Konsequenzen auf persönliche Herabwürdigung und Beseitigen von Kunstwerken aus dem öffentlichen Raum. Und doch: Auch das kann mit existenziellen Folgen verbunden sein.

Profiteure im Sillicon Valley

Die Profiteure dieser Entwicklung sitzen im Sillicon Valley. Facebook und Twitter machen unsere Empörungsbereitschaft zu Geld: Jedes Skandälchen bindet uns enger an die Plattformen. Und anders als noch in vergangenen Zeiten ist es heute nicht mehr eine Obrigkeit, die unsere Tugend überprüft. Es ist auch nicht Facebook. Sondern wir selbst.

Gefährliche Art der Steuerung

Die Selbstkonditionierung des Bürgers ist die perfideste und gefährlichste Art seiner moralischen Steuerung. Perfide, weil sie im Gewand der Freiwilligkeit daherkommt. Und gefährlich, weil uns ein greifbarer Gegner fehlt. Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer spricht von „smarter Diktatur“.
Mag sein, dass dieser Begriff im historischen Vergleich hoch gegriffen anmutet. Eines aber ist gewiss: Totalitäre Strömungen haben sich schon immer zuerst in der Kultur bemerkbar macht.