Nur wenige Werke der Weltliteratur sind so oft verfilmt worden wie Victor Hugos Revolutionsroman „Les Misérables“. Der französische Regisseur Ladj Ly legt nun mit „Die Wütenden“ eine höchst ungewöhnliche Version vor, die allerdings nur noch auf Motiven der Vorlage basiert.
Das Drama handelt von einem ganz normalen Tag in Montfermeil. Der problematische Pariser Vorort, in dem auch Teile von Hugos Roman spielen, ist ein Pulverfass: Ein Funke genügt, um gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Bevölkerungsgruppen zu entfachen. In dieser explosiven Atmosphäre soll eine Spezialeinheit halbwegs für Ordnung sorgen.
Aus der Provinz nach Paris
Ly will mit seinem Spielfilm-Regiedebüt zeigen, dass sich für die Unterschicht in den 160 Jahren seit der Veröffentlichung von „Les Misérables“ nichts geändert hat. Er erzählt seine zunächst anekdotisch konzipierte Geschichte aus Sicht eines Neuankömmlings: Stéphane (Damien Bonnard) hat sich aus der Provinz nach Paris versetzen lassen und ist mitten in einem Alptraum gelandet.
Sein rassistischer Chef (Alexis Manenti) agiert nach der Devise „Das Gesetz bin ich“. Die gereizte Stimmung im Viertel droht zu eskalieren, als Kinder ein Löwenbaby aus einem Zirkus klauen. Weil die fahrende Truppe mit Krieg droht, suchen die Polizisten fieberhaft nach dem Dieb. Als sie den kleinen Issa schließlich stellen, kommt es zu einem Tumult, in dessen Verlauf ein Junge von einem Gummigeschoss im Gesicht getroffen wird und leblos zusammenbricht.
Ein Jugendlicher hat den Vorfall mit seiner Drohne gefilmt. Das Schicksal des Jungen ist Stéphanes Chef völlig gleichgültig – er tut alles, um den Film zu bekommen, denn wenn die Bilder im Internet landen, wird der Vorort explodieren. Am Abend stellt der Polizist aus der Provinz fest, das sei der schlimmste Tag in seinem Leben gewesen – da kann er noch nicht ahnen, was sich am nächsten Morgen ereignen wird.
Regisseur Ly weiß, wovon er erzählt, und das nicht nur wegen der Dokumentarfilme, die er bereits über Montfermeil gedreht hat: Er ist als Sohn westafrikanischer Einwanderer in dem Vorort aufgewachsen, das Drehbuch basiert auf wahren Ereignissen.
Gefilmt mit Drohne und Handkamera
Seine authentische Wirkung verdankt das packende Drama neben der Mitwirkung vieler Laiendarsteller vor allem der Inszenierung: Mit Ausnahme der Drohnenbilder sind alle Szenen mit einer Handkamera (Julien Poupard) gedreht worden. Das verleiht dem Film eine große Dynamik.
Außerdem ist das Publikum auf diese Weise immer mittendrin im Geschehen, was gerade beim äußerst intensiven Finale, als die Polizisten in einen Hinterhalt gelockt werden und es nur noch ums nackte Überleben geht, ein fast körperlich spürbares Unwohlsein zur Folge hat. Der Film erfordert ohnehin ein dickes Fell, auch wegen der verrohten Sprache . „Die Wütenden“ ist in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet und für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert worden.
Abspann
Originaltitel: Les Misérables
Produktion: Frankreich 2019
Buch und Regie: Ladj Ly
Darsteller: Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djebril Didier Zonga u.a.
Länge: 102 Minuten
FSK: freigegeben ab zwölf Jahren
Verleih: Wild Bunch
Fazit: Auf unbehagliche Weise fesselnd und authentisch.