In Zeiten wie diesen, wo die Digitalisierung jeden zweiten Arbeitsplatz bedroht, Angestellte beinahe wöchentlich neue Kompetenzen erwerben müssen und Psychologen einen dramatischen Anstieg depressiver Erkrankungen verzeichnen: Da müsste doch eigentlich die Urtugend der Arbeiterschaft zum Vorschein kommen. Solidarität.

Kein Kampf gegen die Macht

Doch vom einträchtigen Kampf gegen die Macht des Kapitals ist so gut wie nichts zu sehen. Die Suche nach den Gründen – Anonymität des Klassenfeinds, Strategiewechsel von Unterdrückung zur Selbstausbeutung – treibt das Theater Konstanz in der letzten Spielzeit unter der Intendanz von Christoph Nix um. Nun hatte ein Stück Premiere, das sich der Sache auf empirische Weise nähert. „Zwei Tage, eine Nacht“ heißt die Bühnenadaption des gleichnamigen Films der Belgier Jean-Pierre und Luc Dardenne, für den Hauptdarstellerin Marion Cotillard 2015 sogar eine Oscar-Nominierung erhielt.

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Die Handlung ist schnell erzählt: Die von Depressionen geplagte Sandra, Angestellte einer Fabrik für Solarmodule, wird entlassen. Ihre Kollegen hätten das mit einem Verzicht auf ihre Prämie verhindern können. Doch in einer Abstimmung war ihnen das Geld wichtiger als die Solidarität. Eine Sauerei. Der Chef lässt sich erweichen: Die Abstimmung soll erneut stattfinden, in geheimer Wahl. Bis dahin hat Sandra Gelegenheit, ihre Kollegen umzustimmen.

Draußen vor der Tür: Sandra (Johanna Link) auf Stimmenfang.
Draußen vor der Tür: Sandra (Johanna Link) auf Stimmenfang. | Bild: Ilja Mess / Theater Konstanz

Ob das Arbeitsrecht ein solches Vorgehen überhaupt zulassen würde, ist zwar fraglich, aber darum geht es auch nicht: „Zwei Tage, eine Nacht“ ist ein fiktives Gedankenspiel über die Mechanismen unseres Arbeitsmarktes.

Garage und Einfamilienhaus

Auf der Bühne des Konstanzer Theaters hat Regisseur Martin Nimz zwei drehbare Gebäude errichten lassen (Bühnenbild: Bernd Schneider). Je nach Perspektive zeigen sie einen Wohnblock, eine schäbige Garage oder ein gehobenes Einfamilienhaus. Hier begleiten wir die blasse Sandra (Johanna Link) auf ihrem unwürdigen Bettelgang zu den Wohnungen ihrer Kollegen. Ehemann Manu (Dan Glazer) begleitet sie.

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Der erste Kollege (Thomas Fritz Jung) erledigt gerade auf seinem Balkon Reparaturarbeiten. Sandras Besuch ist ihm sichtlich unangenehm. Ob er vielleicht bei der erneuten Abstimmung für ihren Arbeitsplatz votieren könne statt für seine Prämie in Höhe von tausend Euro? „Nein, tut mir leid“, fällt ihr da von links die Ehefrau (Antonia Jungwirth) ins Wort: „Ich bin doch selbst arbeitslos, wir brauchen seine Prämie!“ Außerdem, ergänzt der Mann, müsse er das Studium der Ältesten finanzieren. Die Prämie sei nun mal fest eingeplant!

Gedrückte Stimmung: Manu (Dan Glazer) und Sandra (Johanna Link)
Gedrückte Stimmung: Manu (Dan Glazer) und Sandra (Johanna Link) | Bild: Ilja Mess / Theater Konstanz

Sandra muss bald erkennen: Es ist in den seltensten Fällen der bloße Geiz, der Menschen dazu bringt, die Tausend-Euro-Prämie ihrer Kollegin vorzuziehen. Vielmehr sehen sie sich mehreren Ansprüchen auf Solidarität ausgesetzt. Zum Beispiel der Solidarität zu ihren Ehepartnern und Kindern. Und dann ist da noch die Frage: Was, wenn sie selbst statt ihrer Kollegin den Arbeitsplatz verlieren? Ein Kollege mit Zeitvertrag versteigt sich sogar zur These: Auch wenn die Abstimmung geheim ist, werde der Chef solange die Mitarbeiter befragen, bis er herausfinde, wer alles für Sandra gestimmt hat. Und diejenigen bekämen künftig Probleme.

Das Smartphone ist immer dabei

Die etwa zwei Stunden dauernde Abfragerei könnte eine mühsame Angelegenheit sein, doch das Ensemble füllt die Szenen mit Leben. Wir sehen Menschen, die für jede Kleinigkeit zum Smartphone greifen, bei realen Begegnungen aber schnell überfordert sind. Und wir beobachten eine Frau, die angesichts der vielen berechtigten Ansprüche aller anderen sich selbst zu einem Nichts schrumpfen sieht.

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Martin Nimz hat sich für seine Bühnenadaption bis auf Kleinigkeiten – wie eine stärkere Zuspitzung des Smartphone-Konsums (eine Gesprächspartnerin vergisst über ihr Handy sogar das eigene Baby) – weitgehend an die Filmvorlage gehalten. Und doch reicht seine Inszenierung über den Film hinaus, weil den Schauspielern ein besserer Anschluss ihrer Figuren an unser eigenes Leben glückt. Ein ums andere Mal fühlt man sich an ähnliche Situationen erinnert, als die einzige Wahlmöglichkeit jene zwischen Pest und Cholera war.

Quälendes Ringen um Würde

Bei aller Betroffenheit angesichts des quälenden Ringens um so etwas wie Würde unter diesen unwürdigen Umständen ist es ein Genuss, den Akteuren beim Spiel zuzuschauen. Johanna Link etwa, die ihre am Abgrund der Existenz wandelnde Figur ohne jede Überspanntheit zeichnet. Oder Dan Glazer, der als Sandras Mann hin und hergerissen ist zwischen der Rolle des Anpeitschers und verständnisvollen Partners.

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Und wie endet nun die erneute Abstimmung? Nur so viel: Wer eine knallharte Entscheidung erneut zugunsten des Geldes erwartet, täuscht sich. Das Ende ist subtiler als gedacht, ausgerechnet der Kollege mit dem scheinbar abwegigsten Argument soll am Ende auf fatale Weise Recht behalten. Solidarität ist zwar eine großartige Sache. Leider aber funktioniert sie meist nur dann, wenn man sie gar nicht braucht.

Kommende Vorstellungen am 21., 22., 23., 24. und 26. Januar. Weitere Informationen gibt es auf http://www.theaterkonstanz.de