Auch Ärzte haben ein Privatleben. Und gehen, wenn das Berufsleben sie lässt, Hobbies nach. Zum Beispiel Segeln oder Golfen. So sieht es zumindest das Klischee. In Wirklichkeit trifft man Ärzte häufig im Kulturleben an – als Chorsänger, als Abonnent einer Konzertreihe, als Kammermusiker, als Mitglied im Kunstverein oder auch als Kulturveranstalter.
In unserer Region gibt es zahlreiche solcher Beispiele für die Kunst- und Kultursinnigkeit von Medizinern. Der Gesundheitsverbund Landkreis Konstanz, der die verschiedenen medizinischen Einrichtungen in der Region unter ein Dach fasst, betreibt sogar ein eigenes Orchester – bestehend aus Ärzten, Pflegern, Therapeuten und anderen Angestellten des Verbandes. Geleitet wird das GLKN-Orchester von Wolfram Lucke, dem Chefarzt der Singener Frauenklinik. Konzertmeister ist Herbert Ruchti, seines Zeichens Oberarzt der Anästhesie im Klinikum Konstanz, der außerdem noch ein Salonorchester in Konstanz leitet.
Aber auch die Bildende Kunst findet unter Medizinern ein großes Echo – nicht nur, indem sich viele Ärzte Kunst in ihre Praxis hängen. Der Vorsitzende des Kunstvereins Radolfzell, Wolff Voltmer, ist Chirurg und Chefarzt des Klinikums Radolfzell. Im Gespräch mit dem SÜDKURIER erinnert er daran, dass man von der Medizin ja auch als „Heilkunst„ (lateinisch: Ars Medica) spricht. Und, so könnte man ergänzen, von einem „Kunstfehler“, wenn es schiefgegangen ist.

Die Kunst scheint der Medizin also irgendwie eingeschrieben. Doch wo genau liegen die Parallelen? Als zentralen Aspekt benennen Wolff Voltmer und Wolfram Lucke unabhängig voneinander das Interesse am Menschen.
Der Mensch und seine Emotionen: „Zu Beginn der Medizinstudiums steht die Anatomie“, erklärt Voltmer. Hier ist die Parallele also sehr deutlich. Denn „auch im Kunststudium gehört das Zeichnen des Menschen zu den zentralen Fächern.“ Wolfram Lucke wiederum sieht vor allem die menschlichen Emotionen als Bindeglied zwischen der Medizin und – in seinem Fall – der Musik. Denn der Patient kommt nicht nur mit seinen gesundheitlichen Problemen zum Arzt, sondern bringt auch jede Menge Emotionen mit. Angst oder Hoffnung, Enttäuschung oder Erleichterung, Trauer oder Freude. „Und darum geht es ja stets auch in der Musik“, sagt Lucke. „Daher liegt es schon nahe, dass jemandem, der sich hauptsächlich um Menschen und seine Emotionen kümmert, der Zugang zu den Künsten nicht schwerfällt.“
Die Botschaften hinter Worten: Der Dirigent, der vor einem Orchester steht, muss sich durch Gestik und Mimik verständlich machen. Denn während der Aufführung kann er nicht mit seinen Musikern sprechen. Wie unterschiedlich das Ergebnis auch für den Zuhörer ausfallen kann, je nachdem welcher Dirigent vor dem Orchester steht, ist eines der großen Wunder der Musik. Die Botschaften hinter den Worten spielen aber auch für Mediziner eine große Rolle. „Wenn ich einer Brustkrebs-Patientin in gedämpftem Tonfall sage, dass das alles schon wieder gut wird, wird sie vermutlich nicht leichten Herzens nach Hause gehen“, so Lucke. „Ich muss schon selbst daran glauben und ihr das auch durch meine Körpersprache vermitteln.“

Handwerk und Vision: Jeder Beruf erfordert sein eigenes Handwerk. Auch der des Musikers oder des Bildenden Künstlers. Dort aber beginnt die eigentliche Kunst erst nach dem Handwerk. „Wenn ich die Tonleiter nicht technisch perfekt spielen kann, brauche ich über die Interpretation erst gar nicht nachzudenken“, sagt Lucke. Auch für Voltmer ist das Handwerk zentral: „Deswegen bin ich Chirurg geworden“, sagt er. „Ich wollte etwas mit meinen Händen machen. So wie der Maler oder der Bildhauer arbeite auch ich profan gesagt mit einem Material, dem ‚Menschenmaterial‘. Aber wenn man die Medizin so praktiziert, wie ich mir das vorstelle, reduziert sich das nie auf eine rein handwerkliche Tätigkeit. Man hat eine Idee, eine Vision. Das ist in der Kunst auch so. Man malt nicht einfach ein Bild, sondern hat immer auch eine Idee.“
Und wie bei einem Künstler sieht man hinterher das Ergebnis der Arbeit. Voltmers Spezialgebiet als Chirurg ist der Fuß. „Wenn jemand mit einem völlig verformten Fuß zu mir kommt und der sieht hinterher wieder aus wie ein Fuß, dann freut sich nicht nur der Patient, sondern ich freue mich genauso. Wie ein Künstler habe ich etwas geschaffen und viel Herzblut hineingesteckt.“
Improvisationskunst: Ein Musiker im Konzert hat immer nur eine einzige Chance. Macht er einen Fehler, kann er nicht einfach von vorne anfangen. So ähnlich geht es auch Ärzten wie Lucke oder Voltmer im Operationssaal. Der Schnitt muss sitzen, er kann nicht mehr korrigiert werden. „Auch der Bildhauer macht einen Schlag“, sagt Voltmer, „und muss dann auf diese Situation reagieren. Daraus ergibt sich ein Prozess. Und so ist es auch im OP. Ich muss Schritt für Schritt vorgehen und immer wieder neu überlegen, ob mein Plan noch passt oder ob ich ihn irgendwie anpassen muss.“
In der Musik würde man vielleicht von Improvisationskunst sprechen. Die braucht es auch im OP – gerade weil dort die Situation nicht ganz so dramatisch ist, wie sich das laut Lucke manche Menschen vorstellen: „Ein falscher Schnitt und dann besteht Lebensgefahr – so ist es meistens nicht. Häufig gibt es doch unterschiedliche Möglichkeiten, auf verschiedene Situationen zu reagieren.“
Künstlerische Freiheit: Wer gut improvisieren kann, genießt auch künstlerische Freiheit. „Sie ist in meinem Beruf sogar eine Voraussetzung“, erklärt Voltmer. „Jede Verletzung, jeder Knochenbruch ist sehr unterschiedlich. Daher muss ich jedesmal neu überlegen, wie ich das mache. Da gibt es kein Schema F. Da kann ich mich auch nicht nur an Leitlinien halten, sondern muss auf meine Erfahrungen zurückgreifen. Insofern habe ich auch große künstlerische Freiheiten.“

Handschrift: Einen Künstler erkennt man häufig an seiner Handschrift. Gilt das auch für Mediziner? „Wenn ich Röntgenbilder anschaue, kann ich sagen, ob wir die Operation gemacht haben. Ich erkenne da durchaus meine Handschrift“, erzählt Voltmer. „Wenn ich eine Schraube oder eine Platte einbringe, habe ich immer eine Idee, wie ich das mache, daran kann ich das erkennen. Ich bin da sehr akkurat, um nicht zu sagen penibel. Da kommt bei mir der Ästhet durch.“
Den Ton angeben: Vermutlich ist es kein Zufall, dass die Chefärzte Wolff Voltmer und Wolfram Lucke auch in ihren Hobbies Leitungspositionen innehaben, auch wenn beide, wie sie betonen, diese Funktionen nicht bewusst gesucht haben. Gerade im Orchester ist es notwendig, dass einer den Ton angibt. „Ein Orchester ist keine Demokratie“, sagt Lucke, „das muss man akzeptieren“. Einer muss sagen, wo es musikalisch langgeht. Das ist der Dirigent. Und das ist in einem Klinik-Team nicht viel anders. Dennoch sieht sich Lucke nicht als Typ, der einfach nur durchregiert. „Ich versuche die Leute zu überzeugen, meinen Weg mitzugehen“. Sowohl in der Klinik als auch im Orchester. Medizin und Kunst – sie berühren sich an vielen Stellen.
Zu den Personen
Dr. Wolfram Lucke, 52, ist Chefarzt der Singener Frauenklinik. Der gebürtige Stuttgarter, der in Esslingen aufwuchs, lernte schon früh Klavier, sammelte am Gymnasium erste Erfahrungen im Dirigieren und absolvierte sein Musikabitur mit einer 1. Danach stellte sich die Frage, ob er Musik oder Medizin studieren soll. Er entscheid sich für die Medizin, blieb der Musik aber immer treu. Heute leitet er das GKLN-Orchester und engagiert sich in verschiedenen Chören. (esd)
Dr. Wolff Voltmer, 56, ist Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie in Radolfzell. Sein Großvater väterlicherseits war ein Hamburger Maler, dessen Vater war Apotheker. Für sein eigenes Interesse an der Kunst macht Wolff Voltmer allerdings vor allem seine kulturinteressierte Mutter verantwortlich, die über viele Jahre private Künstlertreffen organisierte. Heute ist Voltmer Vorsitzender des Kunstvereins Radolfzell. Auch die Flure in der Klinik tragen seine kuratorische Handschrift. (esd)