Mit anspruchsvoller Chorliteratur haben sie ihre Erfahrung: Sie singen Bachs h-Moll-Messe, das Brahms-Requiem, den Messias von Händel, die Monteverdi-Marienvesper oder Strawinskys Palmensinfonie – um nur einige zu nennen. Aber sie können auch ganz anders: In ihren Konzerten mit weltlichen und geistlichen Werken verschiedener Stile und Epochen beweisen die Sängerinnen und Sänger des Konstanzer Kammerchores Innovationsgeist.

Sie beziehen in zukunftsweisenden Programmgestaltungen verschiedene Genres mit ein. So wurde Bachs Markus-Passion, von der hauptsächlich das Libretto und nur wenige Musiknummern erhalten sind, mit Lesung und szenischem Spiel aufgeführt. Solistische Instrumental-Einlagen gab es unter anderem beim Weihnachtskonzert „Run To The Manger“ mit Klavierbeiträgen und Lesungen. Hierfür verlieh der Badische Chorverband 2019 die Badische Chorprämie, weil hier Chorgesang „auf außergewöhnliche und innovative Weise“ gefördert wurde.

Für den „Sonnengesang“ gab es eine Auszeichnung

Schon 2011 zeichnete der Badische Chorverband den Chor für die Aufführung des „Sonnengesang“ von Sofia Gubaidulina aus. Video und Tanz bereicherten die Aufführung des „Canto General“ von Mikis Theodorakis und Performance und Live-Elektronik wird das Jubiläumskonzert interdisziplinär mit einbeziehen. Ur- und Erstaufführungen sind für den semi-professionellen Chor mit seinen 50 Mitgliedern, die eine gesangliche oder musikalische Ausbildung mitbringen, eine mit Feuereifer zu bewältigende Aufgabe. So erteilte er Auftragskompositionen an die Konstanzer Komponisten Paul Amrod und Ralf Kleinehanding, die Stücke für Chor und ein Soloinstrument schrieben.

In diesem Jahr blickt der Chor auf sein 75-jähriges Bestehen zurück. Er wurde 1949 von Hermann Müller als A-Cappella-Chor mit 25 Mitgliedern gegründet und von Werner Idler (1953-1976) überregional bekannt gemacht. Nach dessen Tod übernahm Hermann Müller nochmals interimsweise die Leitung und konnte sie 1977 an Hans Rudolf Jaskulsky (bis 1980) übergeben, dem es gelang, in einer schwierigen Phase des Neubeginns den Chor zu einem homogenen und respektierten Ensemble zu formen. Und Michael Auer (seit 1980) konnte die Tradition des A-Cappella-Singens und der oratorischen Konzerte wieder aufnehmen und weiterführen. Die Informationen zur Chorgeschichte hat das langjährige Mitglied des Kammerchores Gottfried Geiger zusammengetragen. Seit 2023 leitet Fabienne Schwarz-Loy den Chor.

Hermann Müller war Gründungsvater des Konstanzer Kammerchors.
Hermann Müller war Gründungsvater des Konstanzer Kammerchors. | Bild: Gottfried Geiger

Die 37-Jährige studierte Dirigieren und Gesang an der Musikhochschule Stuttgart und am Conservatoire National Supérieure des Musique et de Danse Paris. Neben dem Konstanzer Kammerchor leitet sie seit 2013 das überregionale Ensemble „Chorwerk Baden-Württemberg“. Sie ist offen für außergewöhnliche Konzertformate, interdisziplinäre Projekte und grenzübergreifende Kulturerlebnisse mit Schwerpunkt auf anspruchsvolle A-Cappella-Werke und geistliche Chorsinfonik. So gestaltete sich der Übergang von Michael Auer, der den Chor über 40 Jahre lang leitete und prägte, zu ihr harmonisch. Denn Auer übergab ein gut aufeinander eingestimmtes Ensemble, das seine Konzerte schon länger als Gesamtkunstwerk anlegte.

Chor beschäftigt eigene Stimmbildnerin

Im Gespräch erläuterte Fabienne Schwarz-Loy die Ziele, die sie anstrebt. Sie wolle das Chorprofil weiter fördern und die Angebote des Chores auch für Menschen, die diese Art von Musik bisher nicht kennen, zugänglicher machen. Auch gelte es, den Chor klanglich weiter zu entwickeln, an der Gesangstechnik zu feilen. Und sie lege Wert auf Ausgewogenheit des Chorklangs. In einem großen Kammerchor müsse jede Stimme gezielt eingesetzt werden, damit Details und Feinheiten gut abgebildet werden können. Aus diesem Grund beschäftigt der Chor auch eine eigene Stimmbildnerin, die mit kleinen Gruppen und auch im Einzeltraining arbeitet.

Und weil das Jubiläumsjahr unter dem Motto „Utopie“ steht, formuliert die Chorleiterin einen eigenen Wunsch, der Wirklichkeit werden soll: „Ich möchte den Chor auch überregional platzieren und in der deutschen Kulturszene als Begriff etablieren.“ So ist die Teilnahme am Chorfest des Deutschen Chorverbandes 2025 in Nürnberg mit zwei Konzerten geplant. „Wir wollen in die deutsche Chorszene leuchten und zeigen, was wir inhaltlich und konzeptionell zu bieten haben.“

Fabienne Schwarz-Loy ist seit vergangenem Jahr Leiterin des Konstanzer Kammerchors.
Fabienne Schwarz-Loy ist seit vergangenem Jahr Leiterin des Konstanzer Kammerchors. | Bild: Veronika Pantel

Ein Jahr nach ihrem Antritt stand für die Chorleiterin das Jubiläumsjahr 2024 zum 75-jährigen Bestehen des Chores an. Geplant hatte der Chor einen „Tag der Stimme“ mit sieben Workshops im Konstanzer Kulturzentrum, der vom Amateurmusikfondes des Bundes und der Stadt Konstanz gefördert wurde. Begeistert berichtet die Chorleiterin über den großen Erfolg des für alle offenen Formats, das einen breiten Zugang zur Musik schaffte: „Es gab so viele glückliche Menschen von Jung bis Alt, die die pure Kraft der Musik erfahren haben.“

Vom Auflösen und Wiederfinden

Auch das Jubiläumskonzert am 13. Oktober, gefördert vom Kulturfonds der Stadt Konstanz, steht unter dem Motto „Utopie – Vom Auflösen und Wiederfinden“. Zur Konzertidee erläutert Fabienne Schwarz-Loy: „Wir fragen, wie gehen wir gemeinsam in die Zukunft? Wie schaffen wir es gemeinsam, vom Auflösen zum Wiederfinden zu gelangen? Das zieht sich als Gesamtperformance durch das ganze Konzert.“ So löse der Chor sich auf, Vereinzelung entstehe – wie auch im Alltag durch Stress und Zeitdruck in der Leistungsgesellschaft der Einzelne versuche, das Beste nur für sich zu gewinnen.

In Chorwerken der fast nur zeitgenössischen Stücke werde das abgebildet: als Schilderung von Traumwelten oder als scharfzüngige Kommentare zu gesellschaftlichen Zuständen. Aber auch utopische Gesellschafts-Ziele sind in der Musik zu finden: Wie fördern wir Demokratie, Frieden und Liebe? Wie werden wir wieder eine Gemeinschaft?

In einem der herausforderndsten Chorwerke, dem letzten tonalen von Arnold Schönberg „Friede auf Erden“ nach einem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer, wird der idyllische Frieden, den die Weihnachtsgeschichte verkündet kontrastiert von blutigen Taten, die die Weltgeschichte erfuhr. Hoffungsvoll auch hier die Utopie, dass Krieg nicht auf Dauer die Herrschaft übernehmen könne. Nicht von ungefähr steht in der Mitte des Konzerts das Stück „Memories of light“ von Jeremias Heppeler und Jan Wagner mit Chorgesang, Text und elektronischer Musik. Auf ein untypisches Jubiläumskonzert darf man gespannt sein.