Wenn weltweit jemand über Verantwortung spricht, landet man unweigerlich bei sich selbst. Es muss nur aufrichtig, nur schonungslos genug sein. So wie jetzt die Stellungnahme der Russin Alissa Ganijewa über die Verantwortung der Russen. Sie ist 1985 in Moskau geboren, aufgewachsen in Machatschkala/Dagestan, war Schriftstellerin und Journalistin in Moskau, ist im März nach Lettland geflüchtet und lebt seit Juni in Almaty/Kasachstan. Der Titel ihres Beitrags klingt nach einem Schulaufsatz: „Die Frage nach unserer Verantwortung“. Aber der Text ist schneidend. (Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine, Berlin 2023, edition suhrkamp, S. 67 ff.)
Er fragt einmal nicht nach der Haltung der Massen in Russland und in der Russischen Föderation zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Über die wir uns seit spätestens anderthalb Jahren den Kopf zerbrechen. Er fragt vielmehr nach der Haltung der russischen Oppositionellen. Damit sind wir schon nahe bei uns. Aber anders als erwartet; denn wir denken – soweit wir uns dem Denken über Putin-Russland nicht überhaupt verweigern – ja bei aller angemessenen Vorsicht durchaus positiv über diese mutigen Oppositionellen. Unsere Autorin hingegen eher nicht.
Quälende Fragen nach der Verantwortung
Ihre ersten Sätze lauten: „Der russische Überfall mit all den Gräueltaten, die seitdem von Armeeangehörigen begangen wurden und werden, wirft die dringliche, ja quälende Frage nach der kollektiven Verantwortung von uns Russen auf. Durchaus nicht alle Bürger der Russischen Föderation, die den in unserem Namen entfesselten, verbrecherischen Krieg ablehnen, sind auch dazu bereit, sich dafür verantwortlich zu fühlen. Der Schock und das Grauen angesichts der Katastrophe sind offenbar problemlos damit vereinbar, sich mit Händen und Füßen gegen die Zumutung zu wehren, man könne auch nur im Geringsten an der Entstehung dieser Katastrophe beteiligt gewesen sein.“
Nach wenigen Zeilen kommt Ganijewa dann auch selbst auf uns Deutsche zu sprechen oder vielmehr auf unseren hochgeschätzten Neuklassiker – den seinerzeit unter uns allerdings hoffnungslos isolierten, verlassenen, verraten und verkauften Karl Jaspers: „Intellektuelle wie Karl Jaspers oder C.G. Jung, die in den 40er-Jahren betonten, dass jeder Vertreter der deutschen Nation sich selbst erforschen und seine eigene (wenigstens politische) Schuld anerkennen müsse, finden dagegen kaum Erwähnung.“
Private Absolution
Es folgen einige wohl dokumentierte Seiten mit Belegen für den Eindruck der Verfasserin, „dass die meisten gegen Krieg und Regierung eingestellten Russen vor allem mit der Suche nach einer privaten Absolution, mit Selbstrechtfertigung und Selbstmitleid befasst sind.“ Man muss sie selber lesen, sie stellen ein intimes, nur schwer zu vergessendes Zeitdokument der Ausflucht und des Selbstbetrugs dar. Aber vor allem sind sie ein vielstimmiges, mehr oder weniger raffiniertes, durchtriebenes Zeugnis der Verweigerung von Solidarität mit den um ihre Freiheit kämpfenden Nachbarn.
Vielleicht greifen wir uns hier nur einen Punkt heraus, eine Dimension dieses glattpolierten, moralisch geadelten Verrats. Und zwar eine, die direkt auf uns hier in Deutschland durchschlägt: Es ist der Vorwurf an die Adresse der Ukrainer, sich inzwischen einem rohen, maßlosen Hass auf alles Russische zu überlassen. Einer primitiven Entgleisung, einer geistigen Verwahrlosung, die auch die russische Kultur, die russische Sprache, die große russische Literatur und so weiter umfasse.
„Sergei Loznitsa, der ausgezeichnete ukrainische Dokumentarfilmer, geht in seiner Dankesrede für den Pris Cinéma France Culture am 21. Mai in Cannes so weit, Aggressor und Opfer in eins zu setzen: ‚Heute verlangen ukrainische ‚Aktivisten‘, diese Filme (Loznitsas Filme ‚Maidan‘ und ‚Donbas‘) in der demokratischen Europäischen Union nicht mehr zu zeigen. Es muss mit Bedauern festgestellt werden, dass ihre Position in einigen Punkten mit derjenigen der russischen FSB übereinstimmt.‘ Diese Einstellung ist auch typisch für Linke unterschiedlicher Ausrichtung, wie ich aus meiner privaten Korrespondenz weiß, Sie meinen, beide Regierungen (die russische und die ukrainische) seien am Krieg schuld, während das geplagte, ausgeraubte Volk auf beiden Seiten gar nichts damit zu tun habe.“
Aber wieso auch wir Deutschen? Wir sind keine russischen Kriegsgegner, die sich von jeder Mitschuld am Krieg freizusprechen versuchen. Und die, wenn irgend möglich, den Spieß umdrehen, sich als russische Opfer neu erfinden. Aber den Vorwurf, in der Ukraine herrsche inzwischen schon ein Klima der Ausgrenzung, Verpönung und Unterdrückung der russischen Kultur, kann man auch hierzulande nicht so selten vernehmen. Es gibt keinen Rechtfertigungsdruck. Es gibt keinerlei Bedarf an moralischer Akrobatik. Was steckt also dann dahinter?
Auf jeden Fall Unverständnis für das Leben. Das lokal ist und allermeistens unausweichlich lokal. Fast ist man geneigt, sich vor dieser deutschen Unzugänglichkeit für die konkrete Lage vor Ort in die Ironie zu flüchten. Und sich etwa zu fragen, was diese vom vermeintlichen Ungeist in der Ukraine so befremdeten Landsleute bis zum Kriegsbeginn schon alles gemacht, aus sich selber gemacht haben müssen. Selbstverständlich haben sie zunächst einmal ihr ganzes Leben lang an sich und ihrer Bildung gearbeitet. Sie werden wohl ihren Puschkin und Dostojewski und Solschenizyn kennen (auch wenn alle drei russische Chauvinisten waren, was einen deutschen Bewunderer der großen russischen Literatur nichts angehen muss). Sie müssen sich schließlich zwar trotzdem auch auf die Ukraine eingelassen, dabei jedoch das gegenwärtige Unglück und Leid der dortigen Zivilbevölkerung ein wenig beiseite geschoben haben. Vor allem aber vergisst der vergeistigte Kopf auch im Eifer dieser Annäherung niemals, dass er hier zwei Kriegsparteien vorfindet und selber keiner von ihnen angehört.
Abwehrreflex der Deutschen
Die Frage ist, ob eine persönliche Begegnung diese Situation aufbrechen kann: diese deutsche Selbstverbarrikadierung, einen Abwehrreflex, der alles über den russischen Ausrottungskrieg in der Ukraine weiß und nichts davon an sich herankommen lässt. Die Ukrainer kommen zu uns, im Moment ist ungefähr eine Million von ihnen im Land, hauptsächlich natürlich Frauen mit ihren Kindern und Alten.
Was ist, wie reagiert dieser steinerne Deutsche, wenn einer von diesen gezeichneten Menschen ihm ins Gesicht sagt, er spreche jetzt kein Russisch mehr? Russisch sei seine Muttersprache, aber seit dem Februar 2022 spreche man auch in der Familie nur noch Ukrainisch. Bis auf Weiteres jedenfalls.
Ernst Köhler, Jahrgang 1939, ist Historiker und Publizist. Nach Promotion und Habilitation arbeitete er an der Universität Konstanz als Dozent. Den SÜDKURIER-Lesern ist er vor allem durch seine Kolumne „Standpunkt“.