Ein Kolumnist der in St. Petersburg erscheinenden Zeitung „Graschdanin“ diagnostiziert seinem Volk ein „ursprüngliches, geistiges Bedürfnis zu leiden“, ein „Lechzen nach Schmerz“. Wer sich als Russe verstehe, den treibe das unerklärliche Verlangen, „an einen Abgrund heranzugehen, sich mit dem halben Körper über den Rand zu beugen, in die schaudervolle Tiefe zu blicken und – in einzelnen, aber gar nicht so seltenen Fällen – sich wie ein Wahnsinniger mit dem Kopf voran in die Tiefe zu stürzen“.

Wer den Beitrag liest, bekommt eine Ahnung davon, auf welch fruchtbaren Boden Wladimir Putins Propaganda fällt: warum die allabendlichen Fernseh-Talkshows, in denen russische Militärs über einen möglichen Atomkrieg gegen die Nato raunen, nicht etwa Empörung und politischen Widerstand auslösen – sondern vielerorts wohliges Gruseln am möglichen Weltuntergang. Dabei hat besagter Kolumnist solche Talkshows nie gesehen. Er lebte nämlich im 19. Jahrhundert.

Fjodor M. Dostojewski (1821-1881) gehört zu jenen Großschriftstellern, denen eine besondere Kenntnis der russischen Seele nachgesagt wird. Meist bezieht sich dieses Urteil auf seine Romane, auf „Schuld und Sühne“, „Die Brüder Karamasow“ oder auch „Die Dämonen“. Dass er diese Seele auch in journalistischen Beiträgen sezierte, ist weniger bekannt.

Fjodor M. Dostojewksi in einem Porträt von Wassili Perow, 1872.
Fjodor M. Dostojewksi in einem Porträt von Wassili Perow, 1872. | Bild: Mikhail Tereshchenko

Umso mehr lohnt sich deren Lektüre. Denn so manches, was in Dostojewskis „Tagebuch eines Schriftstellers“ zu finden ist, liest sich wie ein aktueller Kommentar zur Lage der Nation. Etwa, was das Verhältnis zum südlichen Nachbarn betrifft. „Auch wir sind ein China, bloß ohne seine Ordnung“, heißt es da: „Wir fangen kaum erst mit dem an, was in China schon beendet wird.“

In Peking sei „alles vorausberechnet schon auf tausend Jahre; hier dagegen geht alles noch auf tausend Jahre drunter und drüber“. Zwei Völker mit ähnlichen Vorstellungen und Ambitionen, dabei aber grundverschiedenen Voraussetzungen, diese einzulösen: Es wirkt, als blicke der Autor in eine ferne Zukunft, in der China zu einer ökonomischen Supermacht aufgestiegen sein wird.

Sinn fürs eigene Milieu

Wie aber erklärt sich der Rückstand auf den so disziplinierten, weitsichtig planenden Nachbarn? Vielleicht mit dem in Russland besonders ausgeprägten Sinn fürs eigene Milieu.

Irritiert beobachtet Dostojewski die Auswirkungen der Liberalisierung auf die russische Gesellschaft. Im Jahr 1873 liegt die Abschaffung der Leibeigenschaft gerade mal ein gutes Jahrzehnt zurück, die Presse genießt noch immer ungewohnte Freiheiten, und vor Gericht darf nun auch das einfache Volk – vertreten durch Geschworene – an der Urteilsfindung mitwirken. Das Ergebnis: Kaum ein Straftäter wird mehr verurteilt, selbst der schlimmste Verbrecher muss die Verbannung nach Sibirien nicht mehr fürchten. Ist es Mitleid, das die Geschworenen so milde stimmt?

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Wäre dem so, schreibt Dostojewski, müssten auch Geschworenengerichte in England vor harten Urteilen zurückschrecken. Doch nichts davon: „Der englische Geschworene weiß, sobald er seinen Platz im Gerichtssaal einnimmt, dass er nicht nur ein gefühlvoller Mensch mit einem zartfühlenden Herzen ist, sondern hier vor allem ein Staatsbürger zu sein hat.“

Der russische Geschworene dagegen bestreitet schon seine Staatsbürgerschaft. Wenn einem so lange geknechteten Volk „wie vom Himmel herab“ der Segen bürgerlicher Rechte zuteil wird, bedeutet das noch lange nicht, dass diese Rechte auch in dessen Bewusstsein ankommen. „Vielleicht empfindet es nicht nur, dass es so viel Macht geschenkt bekommen hat, sondern auch noch, dass es sie umsonst bekommen hat, das heißt: dass es diese Gaben vorläufig noch gar nicht verdient hat.“

„Wir hätten noch Schlimmeres getan“

Wer vor Gericht als Geschworener über einen Verbrecher urteilt, der tut das also nicht aus der Perspektive eines stolzen Staatsbürgers mit Rechten und Pflichten. Sondern als gewöhnlicher Teil einer von Mängeln geplagten Gesellschaft: so „schlecht konstruiert“, dass man „in ihr gar nicht ohne Verbrechen leben“ kann. „Wären wir an eurer Stelle gewesen“, sagt sich der Geschworene, „so hätten wir vielleicht noch Schlimmeres getan.“ Der Verbrecher ist deshalb gar kein Verbrecher, sondern nur Opfer seines Milieus. Sein Verbrechen heißt auch nicht „Verbrechen“. Vielmehr spricht man von „Unglück“, folglich handelt es sich bei dem Verbrecher um einen „Unglücklichen“.

Diese Perspektive einer Gesellschaft auf ihre eigenen Gegner ist für Dostojewski eine „rein russische Idee“. Gemäß dieser Idee ist ein Krieg nicht zwangsläufig ein Krieg. Es kann sich auch bloß um eine Spezialoperation handeln. Und wer sie führt, ist gerade nicht ein von autonomen Bürgern legitimierter Präsident, sondern ein Opfer seines und ihres eigenen Milieus, in dem man „gar nicht ohne Verbrechen leben kann“. Ist es das, was viele Russen so milde auf Putin blicken lässt?

Ein Riesenreich als Überforderung

Der russische Autor Michail Schischkin spricht heute von einer „Zivilisationslücke“ zwischen Ost und West, er meint damit die Kluft zwischen einem patriarchalen Stammesdenken einerseits und liberaler Gesinnung andererseits. Doch beim Lesen von Dostojewskis Kolumnen drängt sich der Verdacht auf, diese Zivilisationslücke könnte nicht so sehr Überzeugungen geschuldet sein als vielmehr einer gewaltigen Überforderung: dem Gefühl, in diesem riesengroßen Reich mit den Rechten eines aufgeklärten Staatsbürgers gar nichts anfangen zu können.

Als Einzelner Einfluss zu nehmen auf das große Ganze, das habe einmal ein bescheidener Beamter ernsthaft versucht, heißt es an einer Stelle im „Tagebuch eines Schriftstellers“. Statt sein Gehalt zu verprassen oder zu vererben, legte er es zur Seite und kaufte nach und nach Leibeigene von ihren Herren frei. Ganze vier Menschen verdankten ihm so ihre Freiheit.

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Ein Held? Wohl allenfalls einer der „lächerlichen und ungeschickten“ Sorte. Einer, der ernsthaft glaubte, „durch einen unbedeutenden Einzelfall das ganze Unglück bekämpfen zu können“! Er liebe „diesen komischen Typus kleiner Menschen, die sich ernsthaft einbilden, sie könnten durch ihr mikroskopisches Beginnen der allgemeinen Sache helfen“, ätzt Dostojewski.

Ob die wüsten Drohungen inklusive Atomschlag oder der kreative Umgang der Herrschenden mit der Wahrheit: Im „Tagebuch eines Schriftstellers“ findet sich zu so mancher russischen Irritation eine Erklärung. Den längsten Nachhall beim heutigen Leser jedoch dürfte ein Stück finden, das sich mit dem Blick des Westens nach Moskau befasst. „In Europa sind wir bloß Landstreicher“, heißt es da. Und weiter: „Auf die allerklügsten Russen blickt man im Westen nur mit hochmütiger Herablassung. Um keinen Preis wollen uns die Europäer als ihresgleichen anerkennen!“

Der einzige Ausweg aus der Missachtung: Für Dostojewski besteht er im Nationalismus. Nur wenn die Russen aufhören, sich selbst zu verachten, könnten sie auch die Achtung des Westens erlangen. Der Kreml-Propaganda wird dieses Kapitel am besten gefallen.