Vor zwei Jahren, als die Corona-Pandemie Musiker und Schauspieler zur Untätigkeit zwang, blickte der SÜDKURIER in die Zukunft des Kulturbetriebs. Was kommt, wenn das Virus geht? Zu den vier Experten, die gemeinsam den Tag X skizzierten, zählte der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann.
„Die Realität in unseren Theater-, Konzert- und Opernhäusern“, prognostizierte er damals, werde „sehr bald eine andere sein“. Die Politik präsentiere dann eine Rechnung zur Bewältigung der Pandemie. Ganz oben auf der Adressatenliste: die Kulturinstitutionen.
Der Tag X ist nun gekommen, in Konstanz beispielsweise streitet man um Einsparforderungen beim Theater und der Südwestdeutschen Philharmonie in einer Größenordnung von sagenhaften 20 Prozent. Durch diese Tür gelangt niemand ohne schwere Blessuren in die Zukunft. Keine Frage, die Realität ist eine andere geworden.
„Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat“, heißt es bei Nietzsche über die Härten des hereinbrechenden Winters: Mit einer Heimat kann nur rechnen, wer im Sommer vorgesorgt hat. Und was das betrifft, gibt es im öffentlich finanzierten Kulturbetrieb ganz erhebliche Unterschiede.
Theater erfindet sich ständig neu
Vergleichsweise gut aufgestellt ist das Sprechtheater. Dass die jeweils kommende Besuchergeneration stets aufs Neue gewonnen werden will, muss hier niemand erst lernen. Bereits in den 70er-Jahren entstanden die ersten Kinder- und Jugendsparten zum Zuschauen und selbst Mitspielen. Kein vernünftiger Schauspieler ist sich für Karlsson vom Dach zu fein, nur weil er gestern noch als Hamlet zu sehen war.
Klassische Dramen aufgebrochen, umgeschrieben, anders erzählt? Gefilmt, getanzt, gerappt? Mit Laien auf der Bühne oder Profis auf dem Marktplatz? Alles kein Problem, Theater erfindet sich ständig neu. Und zwar mit Akteuren unterschiedlichster Herkunft und Geschlechtsidentitäten, in längst diversifizierten Ensembles.
Wo finden junge, kulturaffine Menschen mehr Anknüpfungspunkte: in solchen Stadttheatern oder in einem klassischen Orchester? Und welche Institution hat die stärkere Lobby? Wer kann in haushaltspolitischen Auseinandersetzungen auf mehr Unterstützer aus unterschiedlichen Milieus bauen? Theater gibt es seit mehr als 2500 Jahren, Musik noch länger.
Klassische Musik heutiger Prägung aber mit andächtig verharrendem Publikum, strengen Klatschregeln (bloß nicht zwischen zwei Sätzen!) und penibel zu befolgenden Partituren? Rund 150 Jahre, allenfalls: seit Richard Wagner dem zuvor „schlaffen, oberflächlichen, genusssüchtigen“ Zuhörer „thätige, energische Theilnahme“ abverlangte.
Man möchte also meinen, Orchesterbetriebe hätten weit mehr Grund, über ihren Fortbestand besorgt zu sein. Und tatsächlich hat es an mahnenden Stimmen zuletzt nicht gefehlt. Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, warnte bereits 2010 eindringlich vor den Folgen einer sich rasant wandelnden Gesellschaft.
Dringend notwendige Maßnahmen wie „gezielte Angebote für Migranten“ seien „noch Mangelware“. Orchester unterschätzten, dass es dabei sowohl um ihr künftiges Publikum geht als auch um ihr Standing in der Kommunalpolitik. Dort sei nämlich mit „wachsendem Einfluss von Migrantengruppen“ zu rechnen.
Warum sollten diese sich für Orchester stark machen, wenn sie von ihnen gar nicht angesprochen fühlen? „Insgesamt“, schrieb er damals, „ist das Thema bei vielen Einrichtungen entweder noch nicht richtig angekommen oder es wird eher als Aufgabe von Marketing- oder PR-Abteilung angesehen, nicht aber als Chefsache“.
Mertens ist zwar ausgebildeter Kirchenmusiker, vor allem aber Jurist. In Künstlerkreisen herrscht der Irrglaube vor, visionäre Vordenker ließen sich allein unter ihresgleichen finden, nicht jedoch bei Funktionären. Und so kamen die Bemühungen um klassikferne Publikumsschichten, von Ausnahmen abgesehen (die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, immerhin fünf Jahre lang auch die Südwestdeutsche Philharmonie), über Feigenblattprojekte kaum hinaus. In manchen Fällen war die Unlust der beteiligten Musiker mit Händen zu greifen.
„Brauchen den Quatsch nicht“
Musikvermittler bei den Orchestern, ächzt der Komponist und langjährige Musikdramaturg Arno Lücker, seien noch heute meist „die absoluten Underdogs“. Suche so jemand nach Freiwilligen für eine multimediale Konzerteinführung am Wochenende, meldeten sich „bei hundert Leuten im Orchester, ungelogen: zwei“.
Und noch immer gebe es „Orchesterleute, die komplett ausrasten und dich beschimpfen“, wenn es darum geht, überhaupt etwas zur Musik sagen zu wollen. „Wir brauchen diesen ganzen Quatsch nicht!“, heiße es dann. Lückers Darstellung muss nicht auf jeden Klangkörper passen, bei der Philharmonie in Konstanz ist die Anzahl der innovativen Kräfte noch immer spürbar höher.
Und doch, eine hartnäckige Wirklichkeitsverweigerung ist für den bundesdeutschen Klassikbetrieb kennzeichnend. Ein Grund dafür liegt im „Tarifvertrag für die Musiker in Konzert- und Theaterorchestern“ (TVK). Während zu den Bedingungen des „Normalvertrags Bühne“ angestellte Schauspieler nahezu rund um die Uhr verfügbar sein sollen, Ruhezeiten allenfalls andeutungsweise geregelt sind und zum Lohn dennoch jederzeit ihren Job verlieren können, genießen Orchestermusiker dank des TVK weitreichende Privilegien und soziale Absicherungen. Sich stetig hinterfragen, verändern, auf veränderte Rahmenbedingungen einlassen: Schauspieler müssen es – Musiker dürfen es.
Dieser Unterschied lässt schon in guten Zeiten bei manchem das Messer in der Tasche aufgehen. Dem Schauspielregisseur Herbert Fritsch entfuhren einmal in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ die Worte „himmelschreiende Ungerechtigkeit“, gefolgt von „Schnarchnasen“, die „im Orchestergraben sitzen und Kaffee trinken“. In Krisenzeiten bietet die Kluft umso mehr Zündstoff: Das Theater Konstanz hat als Beitrag zur Spardebatte mal eben die Verträge von zwei Schauspielern nicht verlängert, der NV Bühne macht‘s möglich.
So starten Deutschlands Theater in den Tag X mit divers aufgestellten, hochgradig belastbaren Ensembles, extrem flexiblen Strukturen sowie vergleichsweise großem Rückhalt in allen Milieus und Jahrgängen ihres gesellschaftlichen Umfelds. Während vielen Orchesterintendanten kaum mehr bleibt, als Versprechen abzugeben: jetzt endlich, doch mal so langsam für denkbar zu halten, dass man „diesen Quatsch“ mehr braucht als gedacht.