Ich habe im Internet ein Video gesehen, in dem sich ein US-Amerikaner als Mexikaner verkleidete und Passanten auf der Straße fragte, ob sie seine Kleidung für anstößig halten. Die Menschen, die er ansprach, waren alle keine Mexikaner. Sie waren der Meinung: Seine Kleidung bestätige Stereotypen, die für echte Mexikaner beleidigend seien.

Nachdem er die Meinungen der Leute auf der Straße gehört hatte, ging er in eine mexikanische Stadt, um die gehörten Meinungen bestätigt zu finden. Er sprach also auf Straßen und in Restaurants Mexikaner an und bat sie, seine Kleidung zu beurteilen. Das Ergebnis: Niemand fand an seinem Kostüm etwas auszusetzen.

Jedes Jahr werden zur Fasnacht Listen von Kostümen erstellt, die man nicht mehr tragen soll, weil sie als anstößig gelten. Wer nicht wisse, was eine bestimmte Kleidung in der Kultur der amerikanischen Ureinwohner überhaupt bedeutet, der mache sich mit einem Indianerkostüm der kulturellen Aneignung schuldig.

Unsere Kolumnistin O‘tooli Fortune Haase schreibt im zweiwöchigen Wechsel mit Christoph Nix.
Unsere Kolumnistin O‘tooli Fortune Haase schreibt im zweiwöchigen Wechsel mit Christoph Nix. | Bild: Lukas Ondreka

Gäbe es keine kulturelle Aneignung, so wäre die Menschheit nicht dort, wo sie heute ist. Irgendwann in unserer Geschichte hat jemand die Idee des Feuermachens aus einer anderen Kultur übernommen.

Wir alle sind in der Lage, uns anzupassen und von Menschen außerhalb unserer eigenen Kultur zu lernen. Wir haben deren Wissen, ganz gleich auf welch subtile Weise, in unsere Kultur integriert und es zu einem Teil von uns selbst gemacht.

Die heutige Modeindustrie ist so vielfältig, dass fast jeder vertreten sein möchte. Vergessen wir also nicht, dass es auch Modedesigner der amerikanischen Ureinwohner gibt. Indem sie deren Ästhetik in die Öffentlichkeit tragen, ehren sie ihre Kultur.

Wo ziehen wir die Grenze?

Ist es immer noch eine Aneignung, wenn jemand diese Kleidungsstücke kauft, weil sie ihm gefallen? Und wenn man diese Kleidung aus Angst vor kultureller Wertschätzung nicht kauft, wäre das dann nicht Diskriminierung? Was sollen wir also tun? Wo ziehen wir die Grenze?

Wir leben in einer Gesellschaft, die Empörung als Freizeitvergnügen kultiviert. Man stochert so lange herum, bis sich etwas Falsches finden lässt. Ich glaube, den interkulturellen Beziehungen schadet das letztendlich mehr, als es ihnen hilft. Diese Kultur hindert uns daran, einander zu verstehen.

Ich glaube, dass mehr gewonnen wäre, wenn wir uns aufeinander einlassen. Setzen Sie sich proaktiv mit anderen Kulturen auseinander! Dies ist der beste Weg, um die Bedeutung des Gegenstands oder der Kleidung, die Sie darstellen möchten, zu verstehen.

Machen Sie sich klar, dass die meisten indigenen Gemeinschaften eine Geschichte der Ausbeutung erlebt haben. Nur so können Sie herausfinden, ob die betreffende Gemeinschaft ihre Kultur teilen möchte und wie dies am besten gelingt.

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Die anstößigsten Themen sind manchmal die wichtigsten, über die man überhaupt Gespräche führen kann. Wenn wir zusammenarbeiten, lernen wir mehr über uns als Individuen, und das wird uns helfen, Toleranz für unsere unterschiedlichen Überzeugungen zu zeigen, was zu interkulturellem Verständnis, Respekt und Wertschätzung führt.

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