Diese Warnung macht neugierig: „Dieses Bild enthält möglicherweise anstößige Inhalte. Die Unkenntlichmachung durch SafeSearch ist aktiviert.“ Ein Bild, zu gewagt für die Google-Bildersuche? Der innere Voyeur ruft: Das muss ich sehen! Doch die Enttäuschung folgt auf dem Fuß: Das vermeintlich anstößige Bild, „Baigneuse de face“ (1907) von Félix Edouard Vallotton (1865-1925), ist für heutige Sehgewohnheiten an Harmlosigkeit fast nicht zu überbieten.

Aber das bloße Zeigen der entblößten weiblichen Brust scheint zumindest auf der anderen Seite des Atlantiks heutzutage noch die (mutmaßlich vorwiegend männlichen) Gemüter der Suchmaschinen-Algorithmenhüter zu erhitzen.

Doch keine Bange, verbrennen wird sich an diesem Bild niemand. Bereits die Farbwahl sorgt für Abkühlung: Zwei Blautöne sind die dominierenden Farben des Gemäldes. Noch dazu vermittelt das Element Wasser, in dem die Dargestellte steht, und das ihr bis knapp über die Knie reicht, einen Eindruck von Kühle.

Félix Vallotton: „Baigneuse de face“ (1907). Der Schweizer Künstler bricht hier mit allen Erwartungen an den weiblichen Akt.
Félix Vallotton: „Baigneuse de face“ (1907). Der Schweizer Künstler bricht hier mit allen Erwartungen an den weiblichen Akt. | Bild: wiki

Kühl wirkt auch der nackte Körper. Durch die Licht- und Schattenführung sowie das makellose Inkarnat wirkt er eher wie eine aus leblos-kühlem Material gemeißelte Statue denn eine Frauengestalt aus Fleisch und Blut.

Kaum zu glauben, dass das Bild damals fast einen Skandal auslöste: Als es 1907 bei Vallottons Mäzenen, dem Ehepaar Hahnloser-Bühler, einzog, wurde Freunden der beiden Hahnloser-Kinder der Besuch dort untersagt, wegen „der Nackten im Haus“.

Frau ohne Geschichte

In der Jubiläumsschau des Kunst Museum Winterthur gibt es noch mehr Akte zu sehen, etwa das Doppelbildnis „La blanche et la noire“ (1913). Besonders beeindruckend auch das nonchalante Porträt „Femme à la rose“ aus demselben Jahr. Auch andere Genres sind zu finden, die Auswahl bietet einen erhellenden Querschnitt durch Vallottons Werk: Porträts, Landschaftsdarstellungen und Stillleben werden gezeigt, Graphiken (unter anderem die Holzschnitt-Folgen „Intimités“ und „C‘est la guerre“) und weitere Gemälde sind in der nahegelegenen Villa Flora untergebracht.

Der Holzschnitt „La tranchée (C‘est la guerre I)“ von Félix Vallotton (1915).
Der Holzschnitt „La tranchée (C‘est la guerre I)“ von Félix Vallotton (1915). | Bild: Kunst Museum Winterthur

Aber zurück zur „Baigneuse“ – wieso versetzte sie ihre Zeitgenossen derart in Wallung? Ihre Gestalt erscheint erstarrt, ebenso emotionslos wie die sie umgebende, spiegelglatte Wasseroberfläche. Ohne jeglichen allegorischen Tand und mit klar umrissener Konturlinie hebt sie sich deutlich von der flächigen Bildfolie ab. Der Hintergrund ist entrümpelt und auf aneinanderstoßende Farbflächen reduziert. An der Dargestellten ist nichts erotisch Aufgeladenes, das begehrliche Blicke herausfordern könnte.

Sie ist keine schaumgeborene Venus, keine Susanna im Bade, keine lockend aus dem Bild schauende Odaliske. Eine Frau ohne Geschichte, ohne Pose – einfach da. Der Schweizer Künstler bricht hier mit allen Erwartungen an den weiblichen Akt. Er zeigt Fläche statt Tiefe, Form statt Gefühl, eine Figur wie eingefroren im Moment. Und eben diese anti-sinnliche, verschlossen in sich ruhende Darstellung wirkte auf seine Zeitgenossen äußerst irritierend. Was bezweckte er damit?

Erst Oberfläche, dann die Anekdote

Zunächst einmal scheint es für einen Künstler, der aus der Graphik kommt, naheliegend, dass er seine Bilder in Ebenen denkt. Vallotton setzt hier förmlich die Forderung eines Zeitgenossen, dem Künstler Maurice Denis, um. Dieser rief 1890 dazu auf: „Bedenke, dass ein Bild vor allem eine plane Oberfläche ist, bedeckt mit Farben, die in einer gewissen Ordnung aufgesetzt sind, und dann erst ein Schlachtross, ein Frauenakt oder irgendeine Anekdote.“

Félix Vallotton: „Poivrons rouges“ (1915).
Félix Vallotton: „Poivrons rouges“ (1915). | Bild: Kunstmuseum Solothurn, Dübi-Müller-Stiftung

Der geschichtete Bildaufbau, typisch für Vallottons Bildfindungen, zeigt seine intensive Auseinandersetzung mit japanischen Holzschnitten. Im Zuge der aufkommenden Weltausstellungen waren diese Ende des 19. Jahrhunderts nach Europa geschwappt und eröffneten Kunstschaffenden neue Darstellungsweisen, die im sogenannten Japonismus mündeten.

Auch die stark betonten Konturlinien, die für Vallottons Werke kennzeichnend sind, verraten, dass er sich damit beschäftigte. Die großen Farbflächen, mit denen er die Hintergründe seiner Bilder gestaltet, lassen bereits die Colour-Field-Malerei eines Mark Rothko erahnen – Jahrzehnte bevor dieser berühmt wurde.

Félix Vallotton in seinem Pariser Atelier, 1915.
Félix Vallotton in seinem Pariser Atelier, 1915. | Bild: Archiv Hahnloser/Jaeggli Stiftung

So gelingt es Vallotton, dass seine Motive der Realität entrückt wirken. Was er erschafft, ist kein Abbild der Wirklichkeit, auch wenn seine altmeisterliche Malweise anderes vermuten lässt. Er orientiert sich dabei an dem französischen Klassizist Jean-Auguste-Dominique Ingres, was ihm gar den Beinamen „Schweizer Ingres“, eintrug. Doch anders als bei Ingres verflüchtigt sich bei Vallotton die Illusion des Wirklichen.

Besonders auffällig ist das in seinem Spätwerk „Femme nue couchée sur le sable“ (1921). Hier reduziert er drastisch alle Bildkomponenten wie Farbe, Form und Motiv. Wie durch einen Filter erscheint die Farbe der Haut, sodass fast der Eindruck entsteht, es handele sich bei dem Körper um einen Teil der Landschaft. Der Frauenkörper also als „Paysage composé“ (eine komponierte Landschaft) wie es auch seine tatsächlichen Landschaftsdarstellungen waren? Erotik? Fehlanzeige. Stattdessen: distanzierte Beobachtung, klinische Kühle. Kein Wunder, dass man Vallotton später als Vorläufer der Neuen Sachlichkeit sah.

Wer sind die Frauen, die Vallotton zeigt? Meist namenlose Modelle, mal nackt, mal in zeittypischer Mode. Besonders auffällig: Das Porträt einer jungen Frau mit breitkrempigem lilafarbenen Constable-Hut („Le chapeau violet“ (1907), inszeniert vor einer gleichfarbigen Wand – ein visueller Hingucker.

„Le chapeau violet“ (1907) verströmt elegante Melancholie.
„Le chapeau violet“ (1907) verströmt elegante Melancholie. | Bild: Courtesy Hahnloser/Jaeggli Stiftung Winterthur

Seine Bilder strahlen oft etwas aus, das man heute als „Ennui“ (Langweile) bezeichnen würde, jener eleganten Melancholie, die den Zeitgeist am Vorabend des Ersten Weltkriegs prägte: Statt Aufbruchstimmung atmen seine Bilder eine Art vorzeitige Endzeitstimmung, leise Entfremdung, ein Gefühl von Vereinzelung und elegantem Überdruss.

„Félix Vallotton. Illusions perdues“, Kunst Museum Winterthur und Villa Flora, bis 7. September. Di-So 10–17 Uhr, Do 20 Uhr. Weitere Informationen: www.kmw.ch