Diese Geschichte ist verrückt. 1868, irgendwo im US-Bundesstaat New York: George Hull, Besitzer einer Tabakplantage, streitet sich mit einem Geistlichen. Wegen eines Bibelverses glaubt der Kirchenmann, Riesen hätten einst die Erde bevölkert. Hull, überzeugter Atheist, hält das für ausgemachten Unsinn. Dabei könnte er es auch schon bewenden lassen. Diese Christen halt: Sollen sie halt an ihre Märchen glauben! Doch so tickt dieser Mann nicht.

Stattdessen besorgt er sich einen mehr als drei Meter langen Block aus Gips und beauftragt einen Steinmetz, aus ihm eine menschliche Gestalt zu hauen. Er selbst steht dafür Modell, nackt, den Körper leicht verrenkt, mit der rechten Hand nur unzureichend die Scham bedeckend.

Als der Drei-Meter-Riese fertig ist, geht es an die Feinarbeit: Mit Säuren und Farben schreibt Hull ihm die Spuren von Jahrtausenden ein, hier noch eine Schramme, da eine Verletzung. Am Schluss schleppt er das Ding ins Dorf Cardiff, auf die Farm eines Freundes, hebt dort eine Grube aus, wirft es hinein, schüttet alles wieder zu – und wartet. Genau ein Jahr.

Dann nämlich beschließt sein Komplize, auf seinem Grundstück einen Brunnen bohren zu lassen. Die Arbeiter kommen schnell voran, das Erdreich ist erstaunlich locker. Da stoßen sie auf etwas Hartes. Was zum...? Ja, ist das etwa...? Ein Fossil! Ein versteinerter Mensch, und riesengroß!

46.000 US-Dollar kostete der Spaß

Der US-amerikanische Videokünstler Tony Oursler hat für das Kunstmuseum Winterthur diese wahre Geschichte jetzt neu ergründet. Ist doch ihre Aktualität offensichtlich: der Streit um Glaubensfragen, die Kunst des Fälschens, auch die Radikalität im Meinungsstreit (sagenhafte 46.000 US-Dollar hat sich der Tabakbauer den Spaß angeblich kosten lassen). Vor allem aber interessiert sich Oursler für das, was nach dem Streich kommt, die mediale Aufbereitung und das große Geschäft.

Auch nach Enthüllung des Betrugs zog der Riese Besuchermassen an.
Auch nach Enthüllung des Betrugs zog der Riese Besuchermassen an. | Bild: Einar Aslaksen

In ganzen Wagonladungen sollen die Schaulustigen damals angereist sein, um den vermeintlichen Urzeit-Riesen zu sehen. Wissenschaftler überboten einander mit wilden Theorien, Gläubige fielen ehrfürchtig auf die Knie. Und selbst als die Wahrheit dann doch ans Licht kam, wollte der Besucherstrom nicht abreißen. 50 Cent kostete der Eintritt auf das Grundstück, das sind acht Dollar nach heutigem Maßstab: Hulls enorme Investition dürfte sich am Ende rentiert haben.

Exotik und Erotik

Im Winterthurer Kunstmuseum zieht uns eine auf dem Boden installierte Spiralkonstruktion in den Sog der großen Menschheitsfragen. Woher kommen wir? Wer sind wir? Ein auf die Spirale projiziertes Video zeigt uns echsenartige, reptilienhafte Wesen in unwirklich anmutender Wildnis. Mit geschickt lasziven Bewegungen schlägt sich eine nackte, weibliche Gestalt durch Sumpf und Gebüsch, mutiert allmählich selbst zu einem Reptil: Exotik und Erotik liegen mindestens so nahe beieinander wie Wasser und Land, Fisch und Mensch. Das Interesse des Menschen an seiner Herkunft offenbart hier eine sexuelle Dimension. Kein Wunder, sind doch Evolution und Sexualität zwei Seiten derselben Medaille.

Engelserscheinung im Zeitalter der Technik: Szene aus einem Video von Tony Oursler.
Engelserscheinung im Zeitalter der Technik: Szene aus einem Video von Tony Oursler. | Bild: Kunstmuseum Winterthur

Auch der Stein übt auf die menschliche Identitätssuche schon immer eine magische Anziehungskraft aus. Ourslers schnell geschnittene Filmcollage zeigt uns antike Marmorbüsten und magische Kristalle: Was ist hier noch Wissenschaft, was schon Esoterik? Im Sog der Spirale verschwimmen die Grenzen, lösen sich Gewissheiten auf.

Der Mensch, so lautet eine Lesart des Riesen von Cardiff, will betrogen werden, er bettelt geradezu darum. In einer zweiten Videoprojektion sehen wir Hippies in Batik-Shirts bekifft zu Boden sinken: Auch Drogen sind eine Art von freiwilliger Täuschung. Doch gleich fliegt auch schon ein Flugzeug über die Leinwand, eine verdächtige Substanz ausstoßend: Mit Chemtrails vernebeln einer Verschwörungstheorie zufolge mächtige Kreise unsere Sinne, freiwillig ist dabei rein gar nichts mehr.

Betrug und Selbstbetrug liegen in Ourslers Werk oft nah beieinander.
Betrug und Selbstbetrug liegen in Ourslers Werk oft nah beieinander. | Bild: Kunstmuseum Winterthur

Es ist eine fordernde Welt, in die Oursler sein Publikum führt, überfrachtet mit Anspielungen, montiert aus unterschiedlichsten Techniken, vom analogen Film bis zur Künstlichen Intelligenz. Man kann sich in sie genussvoll verlieren, man kann sich aber ebenso gut auf ratlose Weise verloren fühlen. Dabei hat Oursler jede Menge interessanter Bezüge versteckt, insbesondere zu den Verschwörungstheorien unserer Zeit – von der Bibelstelle über vermeintliche Ufosichtungen bis zu den Geheimnisse der Supermarktkette „Seven eleven“. Im Zweifel empfiehlt es sich, eine Führung zu buchen.

Ach ja, der Riese von Cardiff ist auch zu sehen. Nicht der echte, der liegt heute in einem Landwirtschaftsmuseum. Oursler hat aber eine Kopie angefertigt. Wüsste man nicht, welchen Wirbel er verursacht hat: Man könnte diesen stummen Zeugen glatt übersehen.

Bis 10. August im Kunstmuseum Winterthur. Öffnungszeiten: Di. 10-20 Uhr, Mi.-So. 10-17 Uhr. Weitere Informationen: www.kmw.ch