Der Clicktrack tickt. Bertrand Gröger sitzt in seiner Wohnung am E-Piano und beginnt mit „Seven Days of Falling“ des Esbjörn Svensson Trios. Zum ersten Mal überhaupt singt der Jazzchor Freiburg in der digitalen Probe dieses neue Arrangement. Man sieht auf dem Bildschirm 23 Gesichter, wie sie die Lippen bewegen und die Stirn runzeln. Der eine klebt noch in den Noten, die andere tanzt entspannt vor sich hin. Man hört nichts außer dem E-Piano und dem monotonen Beat. Der Chor ist stumm, die Mikrofone sind ausgeschaltet.

Bild 1: Keine Auftritte, kaum Geld und immer weniger Mitglieder: Wie Chöre gegen die Folgen der Pandemie ankämpfen
Bild: Jazzchor Freiburg

Nach dem Durchlauf bittet Dirigent Gröger um ein Meinungsbild. Die meisten Daumen gehen hoch, ein paar signalisieren ein „Geht so“ oder auch ein „Ich komme noch nicht klar“. Auch Gröger hört seine Sänger nicht. Die unterschiedlich langen Verzögerungen in der Tonübertragung machen Chorgesang unmöglich.

„Natürlich ist so eine Onlinesitzung kein Ersatz für eine richtige Probe. Aber es ist besser, als gar nicht zu singen“, meint der Bass Frieder Richter. „Gerade bei der Einstudierung neuer Stücke bringen Onlineproben schon etwas“, sagt Bertrand Gröger. „Die musikalische Arbeit ist jedoch gleich Null.“

Singen ist gefährlich

„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“, heißt es im Volksmund. Gemeinsames Singen verbindet Menschen, verbreitet Freude, stärkt die Seele. In der Coronapandemie ist Singen gefährlich geworden. Im März 2020 haben sich bei einer Probe der Johannespassion in Amsterdam 100 Chorsänger mit dem Coronavirus infiziert. Einen Monat später gab es auch in Deutschland bei der Probe des Berliner Domchors ein Superspreader-Event mit über 30 nachweislich Infizierten. Damals wusste man noch wenig von der Gefahr durch Aerosole in geschlossenen Räumen.

Wissenschaftliche Untersuchungen brachten mehr Licht ins Dunkle. Regelmäßiges Lüften, kürzere Proben, größere Räume, kleinere Gruppen, das Tragen von Masken, Abstände von mindestens zwei Metern waren die Empfehlungen zur Risikosenkung. Wieder ins Leben zurück kam das Chorsingen dadurch aber nicht. Seit dem 1. November ist es für Amateure grundsätzlich verboten. Nur in Gottesdiensten darf noch mit kleinster Besetzung gesungen werden.

Ein Kommentar auf Corona? Nicht ganz: Als dieses Bild des Jazzchors Freiburg entstand, lag die Pandemie noch in weiter Ferne. So schnell ...
Ein Kommentar auf Corona? Nicht ganz: Als dieses Bild des Jazzchors Freiburg entstand, lag die Pandemie noch in weiter Ferne. So schnell wird aus Inszenierung Realität. Bild: Jazzchor | Bild: FOTOGRAEFIN LISA

„Da sind wir schon privilegiert gegenüber den weltlichen Chören“, sagt Michael Stadtherr, seit 2018 Bezirkskantor an der Konstanzer Lutherkirche. Im letzten Jahr konnte er noch mit wechselnden Vokalensembles des Konstanzer Bachchors mit maximal zehn Sängern und zwei Metern Abstand auf der Orgelempore die Gottesdienste gestalten. In diesem Jahr hat er aber auch diesen einfachen Kirchengesang, der dem Chor geblieben ist, wegen der hohen Infektionszahlen eingestellt. Ab Pfingsten wird aber wieder im Gottesdienst gesungen.

Einsam im leeren Probensaal: Michael Stadtherr, Bezirkskantor an der Konstanzer Lutherkirche, wartet auf den Neubeginn. Bild: Georg Rudiger
Einsam im leeren Probensaal: Michael Stadtherr, Bezirkskantor an der Konstanzer Lutherkirche, wartet auf den Neubeginn. Bild: Georg Rudiger | Bild: Georg Rudiger

„Dort oben liegen noch die Podeste, die wir für das Gloria von Vivaldi im Januar letztes Jahr hochgeschleppt haben“, erklärt der Kirchenmusiker beim Ortsbesuch in der Lutherkirche. Das war das letzte Projekt des Konstanzer Bachchors, der im Jahr zuvor mit Bachs Johannespassion, Mendelssohn-Bartholdys Oratorium „Elias“, Brahms‘ „Deutsches Requiem“ und Bachs „Weihnachtsoratorium“ gleich vier große Konzertprogramme stemmte. Der erste Lockdown sei für den Chor ein großer Einschnitt gewesen. Kein gemeinsames Singen, keine musikalischen Glücksgefühle, kein Nachhock beim Griechen. „Ich habe immer versucht, etwas anzubieten. Aber es sollte schon musikalisch sinnvoll sein.“

Bachchoral aus Einzelvideos

Auf Onlineproben hat er bewusst verzichtet, aber man kommt jede Woche zum digitalen Austausch zusammen. Der aus Einzelvideos entstandene, gut intonierte Bachchoral auf der Website ist ein Hingucker. Im Herbst hat Stadtherr den Chor für ein A-Cappella-Programm in kleinere Gruppen aufgeteilt. Es gab ein aufwendiges Probenwochenende mit zwei zusätzlichen Dirigenten, aber die beiden geplanten Adventskonzerte fielen dem Veranstaltungsverbot zum Opfer.

Frustriert ist Stadtherr trotzdem nicht. Er ist pragmatisch geworden und schaut nach vorne, obwohl die Situation auch nach der neuen Coronaverordnung für Laienchöre ungewiss bleibt. Nach Pfingsten werden er und sein Kollege Michael Auer vom Konstanzer Kammerchor entscheiden, ob und wie das Konstanzer Chorfestival stattfinden kann.

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Man denkt statt der Chornacht an Open-Air-Bühnen in der Stadt. In der Lutherkirche könnte sich der Bachchor coronakonform auf die verschiedenen Emporen verteilen und mehrchörige venezianische Werke von Monteverdi und Gabrieli singen. Einen Mitgliederverlust muss der Bachchor nicht befürchten. „Vielen ist noch bewusster geworden, was ihnen fehlt, wenn sie nicht gemeinsam singen können.“

Damit ist der Chor eher eine Ausnahme. Die kürzlich veröffentlichte, in Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Carus-Verlag entstandene ChoCo-Studie der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt zeichnet ein düsteres Bild der vier Millionen aktiven Chorsänger. Rund 4300 Chöre in Deutschland, Schweiz und Österreich, die meisten aus dem Amateurbereich, beantworteten im März 2021 die Fragen der zuständigen Studienleiterin Kathrin Schlemmer.

Zwei Drittel bleiben übrig

Im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten waren nur noch zwei Drittel der Mitglieder aktiv. Ein Viertel der Chöre hatte seit Ausbruch der Pandemie gar keine Präsenzproben mehr. Nur die Hälfte setzte auf digitale Ersatzlösungen wie Übe-Apps oder Videoproben.

Für die Zukunft rechnen über 50 Prozent der Befragten mit Mitgliederverlusten und 40 Prozent mit finanziellen Schwierigkeiten. Besondere Sorgen bereiten Kinder- und Jugendchöre, die ohnehin eine hohe Fluktuation haben. „Sportvereine dürfen vielerorts bereits jetzt wieder trainieren, Kinderchöre aber noch lange nicht singen. Damit werden den Kinder- und Jugendchören entscheidende Möglichkeiten der Nachwuchsgewinnung schlicht versagt“, sagt Jan Schumacher, Frankfurter Universitätsmusikdirektor und Co-Autor der Studie.

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In der Jazzchor-Probe wird am Ende noch Geburtstag gefeiert. Tenor Udo Belledin bedankt sich für die Glückwünsche zu seinem Vierzigsten. „Und jetzt alle die Mikros auf. Mit so einem Sound hast Du den Jazzchor noch nie gehört“, sagt Bertrand Gröger lachend. Die Stimmen überschlagen sich, Pfeiftöne treffen auf Störgeräusche. „Happy Birthday“ ist kaum zu erkennen. Der Spitzenchor klingt wie eine Horde grölender Fußballfans. Man prostet sich zu. Und wartet auf bessere Zeiten.