Jedes Volk hat seinen eigenen Humor, und jener der Deutschen findet sich bei Loriot. In seiner Komik spiegelt sich das kulturelle Selbstverständnis einer ganzen Gesellschaft, ihre Neurosen, ihre Traumata. Hape Kerkeling bezeichnete einmal allein den Kurzfilm „Zimmerverwüstung“ als eine Zustandsbeschreibung der Bundesrepublik: „Kein anderer Sketch beschreibt uns Deutsche besser.“ Was ist da dran?
Vicco von Bülow, wie Loriot eigentlich hieß, entstammte einem Adelsgeschlecht typisch preußischer Prägung, seine Vorfahren machten Karriere beim Militär, im Staatswesen, in der Kultur. Er selbst kam früh mit dem Theater in Berührung, schlug dann aber eine Offizierslaufbahn ein – mitten im Zweiten Weltkrieg. Er hat über seine Erfahrungen an der Ostfront nicht viele Worte verloren.
In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erwähnte er einmal eine Begebenheit im Schützengraben, als ihn eines Nachts etwas im Gesicht beim Schlafen gestört habe: „Es war die Hand eines Toten, die mich gestreichelt hatte.“ Er habe solche Erlebnisse, das ganze Grauen des Krieges einfach „hingenommen und eingeordnet“. Diese Erkenntnis der eigenen Gefühlskälte sei es gewesen, die ihn später beschämte, nicht so sehr die Erlebnisse selbst.
Er schämte sich bis ans Lebensende
Der Mann, über dessen Sketche später ein ganzes Land lachen sollte, muss direkt oder indirekt Menschen zu Tode gebracht haben. Alles andere wäre sehr unwahrscheinlich angesichts der Tatsache, dass dieser Offizier das Eiserne Kreuz zweiter sowie erster Klasse erhielt und zum Oberleutnant befördert wurde. Er ist ganz offenkundig im militärischen Sinne ein guter Soldat gewesen, preußisch pflichtbewusst, diszipliniert, rational.
Dafür spricht auch, dass er gerade keine nationalsozialistische Gesinnung offenbarte, zumindest wurden Hinweise darauf nie gefunden. Und doch war er als Soldat nach eigener Aussage nicht gut genug: „Sonst hätte ich am 20. Juli 1944 zum Widerstand gehört. Aber für den schauerlichen deutschen Beitrag zur Weltgeschichte werde ich mich schämen bis an mein Lebensende.“
Dieser Mann also ist später der größte Humorist seines Landes geworden, eine unglaubliche Geschichte – auf den ersten Blick. Auf den zweiten scheint sie nur folgerichtig. Wer sonst hätte so präzise die Abgründe der Nachkriegsgesellschaft aufzuspüren vermocht, wenn nicht jemand, der sie selbst durchlitten hat?

„Zimmerverwüstung“ erzählt von einem Geschäftsmann, der im piekfein eingerichteten Vorzimmer auf einen Termin wartet. Die Haushaltsbedienstete weist ihm einem Sessel zu, legt eine Schallplatte auf (“Bolero“ von Mantovani, nicht Ravel), verschwindet wieder. Da sitzt er nun, schaut Löcher in die Luft. Sein Blick schweift von der Kommode zum Bücherregal, weiter zum Sofa, hinüber zu den akkurat gehängten Bildern an der Wand – da stimmt doch was nicht? Eines der Bilder hängt schief!
Was folgt, ist ein Untergang in Zeitlupe. Beim Versuch, die zentimeterfeine Abweichung zu korrigieren, stößt der Gast erst das Nachbarbild herunter, wirft dann zwei Beistelltische um. Die perfekt drapierten Familienfotos landen bald ebenso auf dem Boden wie die wertvollen Leselampen, der Wohnzimmertisch mit den schönen Kerzenleuchtern geht zu Bruch, das Regal kippt, Teller stürzen, Gardinen fallen... Als die Bedienstete wieder in der Tür erscheint, bringt der Herr, vom Kampf mit Lampen und Leuchtern völlig zerzaust, nur einen Satz hervor: „Das Bild hängt schief!“
Was schief ist, muss gerade werden
„Kein anderer Sketch beschreibt uns Deutsche besser“, sagt Kerkeling. Und tatsächlich reihen sich die unschönsten Eigenschaften deutscher Geisteshaltung in allerschönster Konsequenz aneinander. Das beginnt schon mit einer Ordnungsliebe, die auch den Unberufenen dazu treibt, kleinste Fehler an Ort und Stelle ausbügeln zu wollen.
Ohne Verantwortlichkeit, ohne Auftrag, ohne darum gebeten worden zu sein. Stört den Besitzer die Unregelmäßigkeit überhaupt? Ist sie womöglich sogar gewollt, als ironische Brechung der überkorrekten Bürgerlichkeit? Egal: Was schief ist, muss gerade werden!
Dem Deutschen scheint das Glas auch dann noch halb leer, wenn allenfalls drei Tropfen fehlen. Wo andere die gehobene Ordnung bestaunen, entdeckt er die Millimeterdetails. Und wenn jeder vernünftige Mensch beim ersten Missgeschick innehält, die Finger von fremden Eigentum lässt, sich vielleicht noch beim Gastgeber für seinen Übergriff entschuldigt: Da fängt bei uns Deutschen die Arbeit erst an.
In der vermeintlich besten Absicht, doch nur korrigieren zu wollen, wütet der teutonische Perfektionismus wie die Axt im Walde, ob bei Migrationsdebatten, Geschlechterdiskursen oder Sprachvorschriften. So zuverlässig, wie Loriots Passagier im beengten Flugzeug die ihm zustehende Hälfte seiner Armlehne abmisst, enden die übereifrigen Bemühungen regelmäßig in allseits schlechter Laune und verbrannter Erde.
Seelenverwandt mit Heinrich von Kleist
Da kann das vermeintliche Fehlen eines Desserts mit dem zwergenhaft lächerlichen Namen „Kosakenzipfel“ genügen, um die gerade erst geschlossene Freundschaft zweier Ehepaare in offenen Krieg umschlagen zu lassen. Keine vier Minuten liegen zwischen dem betulich inszenierten Anstoßen auf das wechselseitige „Du“ und dem gegenseitigen Anschreien auf dem Parkplatz: „Jodelschnepfe!“, „Winselstute!“, „Ratte!“
Oder die Perfektion treibt den Gast eines Wirtshauses in den Wahnsinn. Wenn der Kellner in übersteigerter Sorge um dessen leibliches Wohl zum zwanzigsten Mal fragt, ob‘s dem Herrn auch wirklich schmeckt? Ob alles recht so ist? Oder es statt der Kartoffeln nicht lieber Reis sein sollte? „Wäre auch kein Reis mehr da gewesen... Warten Sie, ich frag‘ mal!“
Wer in diesen Exzessen des Exakten nach Vorbildern in der deutschen Literaturgeschichte sucht, wird bei einem anderen großen preußischen Künstler fündig. Heinrich von Kleist lässt seinen Novellenhelden Michael Kohlhaas wegen eines trivialen Rechtsstreits um zwei Gäule zum Anführer einer Revolutionsbewegung werden, die brandschatzend ganze Landstriche verwüstet. Dass er schließlich zum Tode verurteilt wird, stört ihn nicht, solange er nur endlich seine Pferde zurückbekommt.
Was die Tiere für Michael Kohlhaas, das ist ein Krug für Marthe Rull. Weil dieser im Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ zerdeppert am Boden liegt, wird gleich der ganze Justizapparat in Gang gesetzt. Wie die empörte Frau Rull vor Gericht penibel angeblich wertvolle historische Abbildungen aufzählt, die da jetzt zu Bruch gegangen seien – „Hier grade auf dem Loch sind die gesamten niederländischen Provinzen dem span‘schen Philipp übergeben worden! Hier im Ornat stand Kaiser Karl der Fünfte: Von dem seht ihr nur noch die Beine stehn!“ -, das erinnert stark ans pedantische Studium des ruinierten Kosakenzipfels.
Die Parallelen der Biografien sind frappierend: Auch Heinrich von Kleist stammte aus einer Adelsfamilie, auch er ging zum Militär, auch er nahm an einem Feldzug teil. Wie bei Vicco von Bülow lassen seine Beförderungen vom einfachen Soldaten bis zum Leutnant auf eine erfolgreiche Laufbahn schließen. Und auch im gleichwohl vollzogenen Bruch mit derselben gleichen sich die beiden. Wo von Bülow später seine Scham bekundete, sprach Kleist von der militärischen Disziplin als dem „Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung“.
Sind Scham und Verachtung also das sicherste Fundament für Humor? Das vielleicht nicht. Aber gewiss scheint: Wer das Leben auch von seiner finsteren Seite kennengelernt hat, lacht zwar bitterer. Aber auch länger.