Der Deutschland-Besucher forderte nicht viel und war darauf gefasst, noch weniger zu finden. Aber was dann kam, unterbot alle Erwartungen: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen! Denker, aber keine Menschen! Priester, aber keine Menschen!“

Die Deutschen sind ein Volk der Roboter, fleißig, zuverlässig, mit einprogrammierten moralischen Grundsätzen. Doch was den Menschen ausmacht, das fehlt ihnen. So jedenfalls nimmt es der Grieche Hyperion wahr oder vielmehr Friedrich Hölderlin, der ihm in seinem gleichnamigen Roman diesen ernüchternden Reisebericht in den Mund legt. Das war vor 200 Jahren. Was würde Hölderlin wohl heute über uns Deutsche schreiben?

Zu seiner Zeit erfuhren Gedichte höchste Wertschätzung. Statt eines Fernsehers stand in den Wohnzimmern der Wohlhabenderen ein Klavier, und sollte die ganze Familie davon einen Vorteil haben, bedurfte es geeigneter Liedtexte zum Mitsingen. Sprache war weit mehr als nur ein schnödes Werkzeug zur Verständigung.

Jedes Kind lernte von klein auf, dass sie auch schön ist, folglich rätselhaft und somit Kunst. Etwa in „Am Brunnen vor dem Tore“, gedichtet von Wilhelm Müller, vertont von Franz Schubert: Bedeutet der Vers „Und immer hör ich‘s rauschen: Du fändest Ruhe dort!“ einen erholsamen Schlaf? Oder gar den Tod? Und was rauscht da überhaupt?

Einer der bedeutendsten Lyriker seiner Zeit: Friedrich Hölderlin (1770-1843).
Einer der bedeutendsten Lyriker seiner Zeit: Friedrich Hölderlin (1770-1843). | Bild: Wikipedia

Sprache wandelt sich nun mal! Wo immer sich Kritik an Marotten und Mode-Erscheinungen regt, ist dieses vermeintliche Gegenargument zu hören. Manchmal folgt noch der Hinweis, dass Kulturpessimismus bekanntlich schon immer Ausdruck eines reaktionären Weltbilds gewesen sei.

Richtig ist vielmehr, dass sich Sprache keineswegs wandelt. Vielmehr wird sie gewandelt: durch Menschen, die damit Absichten verfolgen. Und weil diese Absichten nicht immer gute sind – man betrachte nur die Sprachentwicklung im Dritten Reich oder auch in der DDR – mag Kulturpessimismus vielleicht konservativ sein. Reaktionär aber ist er gewiss nicht.

Ästhetische Erlebnisse erwartet niemand mehr

Wer also aus Hölderlins Augen auf die Deutschen im 21. Jahrhunderts blickt, muss verzweifeln. Handwerker siehst du, aber keine Menschen? Ach, wenn sie wenigstens Handwerker wären! Gute Handwerker der Sprache schrauben an ihr im Dienste der Verständlichkeit herum. Sie kümmern sich zwar nicht um die hohe Kunst, halten aber wenigstens den Informationsfluss in Gang. Schließlich bemisst sich jedes Kommunikationssystem zuallererst daran, wie viele Menschen an ihm tatsächlich teilhaben.

Wer sich in diesem System auf welche Weise angemessen repräsentiert fühlt, ist zwar nicht gleichgültig, aber zweitrangig. Und überhaupt keine Rolle spielt die Frage, ob jemand dabei gebildeter, moralischer oder in sonstiger Weise überdurchschnittlich erscheinen möchte. Die wahre Tragödie jedoch liegt in der Tatsache, dass wir überhaupt von einem Kommunikationssystem sprechen müssen, weil ein ästhetisches Erlebnis längst niemand mehr erwartet.

Das könnte Sie auch interessieren

Der Deutsche kommuniziert, wo andere sprechen. Nicht zu wissen, ob das Wort Ruhe nun Schlaf oder Tod meint, ist ihm ein Gräuel geworden. Und für einen Satz wie „Immer hör ich‘s rauschen“ gibt‘s wegen fehlender Klarheit die Note sechs.

Wer es als Politiker zu etwas bringen will, ist deshalb gut beraten, jeglichen Anflug von rhetorischem Wagemut oder gar Sinn für Poesie zu vermeiden. „Die Erfahrungen sind wie die Samenkörner, aus denen die Klugheit emporwächst“ (Konrad Adenauer), „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ (Helmut Schmidt), „Das ist eine klassische journalistische Behauptung: Sie ist zwar richtig, aber nicht die Wahrheit“ (Helmut Kohl): Wie lange ist es her, dass ein deutscher Kanzler so sprechen konnte?

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterscheidet sich in Sachen Sprache stark von manchen seiner Vorgänger. Sein Motto: Bloß keinen ...
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterscheidet sich in Sachen Sprache stark von manchen seiner Vorgänger. Sein Motto: Bloß keinen Interpretationsspielraum lassen! | Bild: Christoph Soeder/dpa

Der aktuelle Amtsinhaber bringt Gesetze „auf den Weg“, sorgt dafür, dass „die Weichen richtig gestellt“ werden und wir uns „unterhaken“. Einen Interpretationsspielraum darf es um keinen Preis geben, nichts zum Nachsinnen, Widersprechen, am Ende gar Missverstehen!

Zu Hölderlins Zeiten hatte sich diese Entwicklung schon angedeutet. Die Industrialisierung brachte damals ein funktionales Verständnis von Leben und Welt mit sich. Eine zunehmende Mediennutzung sorgte für das allmähliche Abschleifen regionaler Unterschiede, Sprachreformer mit politischem Sendungsbewusstsein taten ein Übriges. Auf ihr Betreiben hin gab es plötzlich von der deutschen Sprache eine gute (Hochdeutsch) und eine angeblich weniger gute (alles andere) Version, eine Schlecht- und eine Rechtschreibung.

Eins und null, nichts dazwischen

Doch das war noch gar nichts im Vergleich zu dem, was im Zeitalter der Digitalisierung kommen sollte. Ein Bit, die kleinste Einheit im digitalen Rechensystem, kennt nur zwei Zustände: ja und nein, wahlweise auch an oder aus, eins oder null. Es gibt nichts dazwischen.

Viel ist geschrieben worden über die Auswirkungen der digitalen Mediennutzung auf das menschliche Bewusstsein. Lassen wir uns zu viel von Algorithmen vorschreiben? Wie stark beeinflussen sogenannte soziale Medien unser Selbstwertgefühl?

Auf dem Bildschirm eines Laptops ist der Binärcode zu sehen. Das Prinzip – eins oder null, ja oder nein, an oder aus – hat ...
Auf dem Bildschirm eines Laptops ist der Binärcode zu sehen. Das Prinzip – eins oder null, ja oder nein, an oder aus – hat sich auf die Sprache übertragen. | Bild: Oliver Berg/dpa

Viel zu wenig Beachtung findet die Orientierung unserer Sprache am Eins-oder-Null-Prinzip der digitalen Logik. Besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung am Niedergang einer Disziplin, die nur scheinbar eine Blütezeit erlebt: die Ironie.

Lange Zeit waren sich die Geistesgrößen im Land der Dichter und Denker über deren den Horizont erweiternde Funktion einig. Von „unendlich vollem Chaos“ sprach der Philosoph Friedrich Schlegel, von „heiterer Ambiguität“ (Zwei- oder Mehrdeutigkeit) Thomas Mann: Der geistige Mensch habe die Wahl, „entweder Ironiker oder Radikalist zu sein“.

Der Radikale ist sich seiner Sache sicher, der Ironiker zweifelt. Indem er vermeintliche Gewissheiten hinterfragt, will er sie weder widerlegen noch ihr Gegenteil behaupten. Es geht ihm nicht um eins und null, sondern um ein Bewusstsein für die unendliche Vielfalt möglicher Wahrheiten. Die Ironie, schreibt der Philosoph Vladimir Jankelevitch, will nicht geglaubt werden, sondern interpretiert. Entsprechend weckt sie im anderen ein „brüderliches, verständnisvolles, intelligentes Echo“.

Das könnte Sie auch interessieren

Man überprüfe dies an der Ironie unserer Tage. Wenn der linke ZDF-Entertainer Jan Böhmermann twittert: „Man sollte nicht in die rechte Ecke gestellt oder Dummkopf genannt werden dürfen, nur weil man Seite an Seite mit Rechtsextremen, Neonazis und vorbestraften Holocaustleugnern am Brandenburger Tor aufmarschiert!“ Oder wenn ARD-Komiker und Grünen-Kritiker Dieter Nuhr ätzt: „Solange der Wirtschaftsminister nicht weiß, was insolvent bedeutet, können unsere Banken nicht pleitegehen!“

Mehrdeutigkeit? Brüderliches Echo? Bewusstsein um die unendliche Vielfalt möglicher Wahrheiten? Nichts davon. Wird eins gesagt, ist null gemeint, im digitalen Zeitalter meint Ironie nichts weiter als das plumpe Gegenteil: Wer mit Nazis marschiert, ist natürlich sehr wohl selbst ein Nazi, und Inkompetenz schützt eben nicht vor Pleite.

Rettung bringt der Deutschrap

Rettung naht ausgerechnet dort, wo überbesorgte Pädagogen den ultimativen Sprachverfall wähnen. Wer sich von Jugendlichen in die Welt der deutschen Rapper führen lässt, begegnet unbekümmertem Wortwitz, raffinierten Metaphern und vor allem wahrhaftiger Ironie. Missverständnisse sind hier noch eingepreist als ein notwendiges Risiko, ohne das Kunst nur Propaganda wäre und Sprechen bloß Kommunikation.

Dabei ist jeder vermeintliche Verstoß gegen Sitte und Anstand, von meist betagteren Moralhütern mit Vehemenz öffentlich gerügt, in Wahrheit Ausdruck einer lebendigen Sprachkultur. Es ist wie so oft in der Geschichte: Die Kultur lebt nicht bei denen, die sie zu beherrschen glauben. Sondern dort, wo sie ebendiese besonders schmerzt.