Seit dem 9. August 2024 gilt der österreichische Schriftsteller Bodo Hell im Dachsteingebirge als vermisst. Wanderer wollen den 81-Jährigen noch ein letztes Mal in einem unwegsamen, von Bergkiefern bewachsenem Gelände begegnet sein. Hell habe sich, so die Augenzeugen, auf der Suche nach abspenstigem Vieh befunden.

In dem stark verkarsteten Gebirge, das sich über die Bundesländer Salzburg, Steiermark und Oberösterreich erstreckt, widmete sich der Schriftsteller im Sommer der Milch- und Käse-, aber auch der Sprachgewinnung. Auf der Grafenbergalm, wo er mehr als vier Jahrzehnte als Senn tätig war, hatte er mit 120 Stück Vieh und einer ähnlichen Anzahl Ziegen zu tun.

Hell wurde am 11. August als vermisst gemeldet, nachdem ihn ein Bekannter auf der Alm nicht mehr angetroffen hatte. Eine Suchaktion der Bergrettung mit Hubschraubern, Drohnen und Hunden, die sowohl von oberösterreichischer als auch von steirischer Seite aus und zuletzt im Bereich Speikberg und Hirschberg durchgeführt wurde, blieb erfolglos.

„Nie enden wollende Neugier“

Am 9. September erklärte der Grazer Verlag Droschl seinen Autor der ersten Stunde offiziell als verschollen: „Wir sind erschüttert und trauern um einen Ausnahmekünstler“, heißt es in der Mitteilung. Verlagsleiterin Annette Knoch erinnert an Hells nie enden wollende Neugier, rühmt seine Sprach- und Sprechvirtuosität, seine Genauigkeit und sein enzyklopädisches Wissen, aber auch seinen Humor, seine Liebenswürdigkeit, Zugewandtheit und Freundlichkeit.

Seine nicht wenigen Freunde haben die Suche fortgesetzt. Doch Hell bleibt unauffindbar. Andere Weggefährten, wie die in Mühlheim (Thurgau) lebende Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse, bringen ihn uns mit persönlichen Texten ins kollektive Gedächtnis zurück. Hell war 2015 Stipendiat des Bodmanhauses in Gottlieben am schweizerischen Ufer des Seerheins.

Zsuzsanna Gahse
Zsuzsanna Gahse | Bild: Ch. Rütimann

Gahse berichtet im „Kulturmagazin“ für den Kanton Thurgau von einem fulminanten Maultrommel-Konzert, dass er gemeinsam mit den Schriftstellern Michael Mettler, Peter Weber und Anton Bruhin gab. Hell war nicht nur ein guter Hirte und ein Sprachjongleur, sondern auch ein begabter Musiker – er studierte am Salzburger Mozarteum Orgel, in Wien an der Akademie für Musik und darstellende Kunst Film und Fernsehen, an der Universität Philosophie, Germanistik und Geschichte.

„Es läuft einfach irgendwohin“

Ghase schreibt mit großer Sympathie über den als zart charakterisierten Alpenautor und Senn, aber auch über den produktiven Literaten, der seit den 1970er-Jahren Bücher, Hörspiele, Text-Foto-Bände veröffentlichte, aber auch Filmprojekte wie „Bodo HELLwach“ realisierte (2023). „Man kann mit den Hell‘schen Texten Wunder erleben“, notierte Ghase 2016 in einer SÜDKURIER-Rezension über das aus Texten und Bildstrecken bestehende topographische Verzeichnis „Stadtschrift“.

Über seine 2023 erschienene Publikation „Begabte Bäume“ heißt es bei ihr: „In praktisch allen seinen Texten beginnt die erste Zeile mitten in einem Satz, und der letzte Satz endet ohne Komma oder Punkt, er läuft einfach weiter, irgendwohin. So beginnen und enden die einzelnen Kapitel auch in seinem letzten Buch „Begabte Bäume“.

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Das literarische Herbarium (mit Zeichnungen von Linda Wolfsgruber), das ihn als echten Kenner ausweist, was zwischen Himmel und Erde wächst, stand auf der Longlist des Österreichischen Buchpreises. Aus Hells Aufenthalt im Thurgau ist das Buch „Parallelprosa mit Insel Werd“ (2017) entstanden – die Insel liegt bei Eschenz bzw. Stein am Rhein. Gahse war an der „Parallelprosa“ beteiligt, Hell lieferte den einen, sie den zweiten Erzählstrang. Was das ist? Ein Dokument der Freundschaft.

Der obsessive Senn und Ziegenkäser Hell verstand sich, bei aller aufscheinenden Volkstümlichkeit, als Avantgardist. „Seine vor Witz und Einsicht funkelnden Sprachmontagen stehen felsenfest in der Tradition der Wiener Gruppe. Unter deren zahlreichen Nachkommen stach Bodo Hell durch sein unbändiges Interesse an der Wirklichkeit hervor: indem er sie beim Wort nahm“, ordnet der Journalist und Theaterkritiker Ronald Pohl im Wiener „Standard“ Hells Schreibarbeit ein.

Die Wiener Gruppe war eine lose Vereinigung österreichischer Schriftsteller, die sich Mitte der 1950er-Jahre unter dem Einfluss von H.C. Artmanns formierte. Zu ihren Mitgliedern zählten auch Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, die 1997 Droste-Preis der Stadt Meersburg erhielt. Hell war mit dem Paar befreundet, Mayröcker bezeichnete er als seine persönliche literarische Leitfigur.

Aufklärer und Weltveränderer

„Kunst muss einen – wie die Wissenschaft – gescheiter machen, wenn man sich damit beschäftigt und nicht nur Bestätigungen liefern für das, was man schon zu wissen glaubt“, sagte der poetische Universalgelehrte einmal. Er verstand sich selbst wohl als schelmischer Aufklärer und sanfter Weltveränderer. Hell war ein Suchender und vielleicht noch mehr ein Sehender. Der Literaturkritiker Paul Jandl nannte ihn bewundernd einen „Schamanen des Schauens“, der das Wesen der Natur ebenso im Blick hatte wie jene der Menschen.

Dass der Literaturbetrieb Hells einzelgängerische Dichtung nicht nur registrierte, sondern auch mit renommierten Preisen honorierte – Respekt. Schon 1972 erhielt Hell den (ersten) Rauriser Literaturpreis. Zuletzt wurde der Alleskönner 2023 mit dem Literaturpreis des Landes Steiermark ausgezeichnet.

Das „Todesklärungsgesetz“ erklärt in Österreich, wann ein Vermisster für tot erklärt werden kann. Es können drei bis zehn Jahre verstreichen. Bis dahin wird der Betreffende als vermisst geführt. So auch der verschollene Bodo Hell.