An das erste Mal kann sich Bernd Konrad noch genau erinnern. Im Februar 1964 hatte er sein Debüt bei der Fasnacht in Konstanz. Die Eltern ließen den damals 16-Jährigen alleine losziehen, er durfte den Sprudelball besuchen, auf dem nur Alkoholfreies ausgeschenkt wurde.
Den Alkohol hat der Teenager damals nicht vermisst, denn er erlebte eine andere Form etwas Rauschhaftes: Konrad spürte, wie die Musik Menschen begeistern und verbinden kann. Beim Sprudelball hörte er erstmals die Halleluja Gamblers, die sich dem New-Orleans-Jazz verschrieben hatten und bei den Jugendlichen großen Applaus ernteten.
„Das war für mich wie ein Bombeneinschlag“, erinnert er sich heute. 60 Jahre später ist seine ehemals blonde Mähne in Ehren ergraut. Konrad, das Kind von Flüchtlingen aus Ostpreußen, ist längst Konstanzer und hat dort bald alle irdischen und unterirdischen Orden kassiert, die von Menschenhand verliehen ans Jackett geheftet wird.
Fasnacht war eine andere Welt
Doch eines ist bei allen närrischen oder staatlichen Auszeichnungen gleichgeblieben: Die Begeisterung für die Musik an Fasnacht, die sich von der Musik unter dem Jahr stark unterscheidet. Seit 60 Jahren spielte er auf der Konstanzer Fasnacht, die Corona-Jahre und eine schwere Erkältung einmal ausgenommen.
Als er die Dixielander erstmals hörte, übte Konrad bereits begeistert Klarinette. Ein Jahr später trat er selbst in einer spontanen Band auf. „Wir waren fünf Mann damals“, erinnert er sich. In klassischer Besetzung – Klarinette, Trompete, Posaune, Trommel, Banjo – spielten sie Schwarze Musik. Mit New-Orleans-Klängen zogen die Fünf durch die Altstadt. Bisher hatte er nur Klassisches gespielt, die Hits auf dem Sprudelball hatten ihm eine andere Richtung gegeben. Tanzmusik und Unterhaltung.
„Die Fasnacht war eine andere Welt“, sagt er im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Er wechselte dann auch von der Klarinette zum Saxophon, das zu seinem Lebensbegleiter werden sollte. Es führte ihn auf den Höhen des Jazz. Zugleich erhielt er die erste Professur für Jazz, die das Land Baden-Württemberg Anfang der 80er-Jahre ausgeschrieben hatte. Als Profi hat der Holzbläser fast alles mitgenommen, was im Reich der Töne geboten wird. Tourneen mit dem Landesjugendjazzorchester führten ihn nach Asien und Afrika.
Warum nicht aus der Konserve?
Die spannende Frage: Warum tun sich Menschen das an? Warum schleppen sie schwere Trommeln oder empfindliche Klarinetten durch das Gedränge? Es gibt doch schon genug Musik aus der Konserve.
Überall knallt und schallt es, man müsste nicht unbedingt mit handgemachter Musik durch die Straßen rumpeln und an zugigen Ecken B-Dur spielen. Und doch finden sich immer wieder unverdrossene Krachmacher wie Konrad und Konsorten. Vielleicht auch deshalb: Sie erfreuen sich einer erhöhten Aufmerksamkeit. Ihre Kunst ist brotlos, erhält aber doch Applaus. Und die Interpreten erhalten manches Freibier gereicht.
Die Ausrichtung der Gruppen ist reichhaltig in diesen Tagen. Häufig hört man die Lumpenkapelle, die Katzenmusik, Gitarrenduo, Egerländer. Ganz vorne im Repertoire stehen alte und neue Fasnachtslieder. „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ zum Beispiel hält sich wacker.
Auf die Texte kommt es nicht unbedingt an, eher auf Schunkel-Qualitäten und Erkennbarkeit. Bernd Konrad setzt hat seine Musikauswahl seit 60 Jahren nicht verändert. „Es gibt gar keinen Grund, einen Titel auszutauschen“, meint er. Seine Musik ist eingängig, eine Nummer wie „When the Saints“ kennt fast jeder.
Märsche auf der Kirchenorgel
Anders liegt der Fall bei Melanie Jäger-Waldau. Die ausgebildete Kirchenmusikerin wirkt seit 30 Jahren am Überlinger Münster. Dort spielt sie Orgel und betreut dort namhafte Chöre. Damals, als die junge Musikerin an den Bodensee kam, leuchtete ihr die Bedeutung der Fasnacht schnell ein. „Schon in meinem zweiten Jahr in Überlingen spielte ich den Narrenmarsch zum Ende des Gottesdienstes“, berichtet sie.

Für die gebürtige Bremerin war das auch ein mentaler Sprung, den sie freilich locker gemeistert hat. Zuvor hatte sie sich von der Stadtmusik die Noten für den Narrenmarsch mit seinem prägnanten Rhythmus besorgt und dessen Melodie dann auf die Orgel übertragen.
Inzwischen hat sie das markante Stück im Dutzend interpretiert und ausgebaut. An einigen Stellen moduliert sie, wechselt also in andere Tonarten und verbindet das mit zusätzlichen Akkorden. Die linke Hand spielt dazu schnelle Sechszehntel. So wirkt diese Fasnachtshymne zugleich feierlich. In zahlreichen Videos ist diese wundersame Umwandlung dokumentiert, die Masken der schwarzen Hänsele geistern unsichtbar durch das Münster.
Immer für den Fasnachtssonntag legt sich Jäger-Waldau diesen Marsch zurecht. Die Kirchenmusikerin spielt die Weise jedoch nie gleich. Je nach Tagesstimmung verändert sie ihre Musik. „Im Jahr 2022 spielte ich eine Version mit vielen Moll-Akkorden“, erinnert sie sich.
2022, das war das Jahr, in dem Russland die Ukraine angegriffen hatte und vielen Menschen nicht der Sinn nach einem Umzug stand. Diese Stimmung spiegelt sich in ihrer Interpretation. Die Narrenmusik trug Trauer.
„Alle bleiben sitzen“
Noch etwas bastelte sie hinein: Sie fügte nach und nach die Narrenmärsche von Rottweil, Elzach und Oberndorf dazu. Die drei Fasnachtshochburgen bilden zusammen mit Überlingen den sogenannten Viererbund, der sich alle vier Jahre in einer der vier Städte trifft.
In einer sinfonischen Zusammenschau spielt die Organistin dann alle vier Märsche hintereinander, wobei Überlingen immer den Rahmen und finalen Höhepunkt bildet. Ihre Zuhörer danken es. „Am Fasnachtssonntag bleiben alle sitzen, bis der letzte Ton verklungen ist“, berichtet sie. Das ist auch nicht alle Tage der Fall.