Herr Keller, Sie gelten nicht unbedingt als jemand, der am Ende des Menüs das Dessert verweigert. Dennoch äußern Sie sich sehr kritisch über Zucker.

Das ist gewissermaßen die Geschichte meines Lebens als Winzer: Wir waren die Ersten, die vollkommen restzuckerfrei gekeltert haben. Wir haben unsere Weine schon zu einer Zeit konsequent trocken ausgebaut, als das noch vielerorts verpönt war. Aber ja: Bei einem tollen Dessert werde ich schwach, da weiß ich aber auch vorher, dass Zucker drin ist. Das Problem ist der versteckte Zucker. In einem normalen Lebensmittel hat Zucker nichts, aber auch gar nichts zu suchen. Auch nicht im Fastfood-Bereich, auf einer Pizza oder einem Döner.

Die Geschmäcker sind verschieden.

Vor allem sind sie verschieden ausgebildet. Zucker ist der einfachste Geschmack für einen Menschen. Süße kriegt man mit der Muttermilch, dann kommen die Gummibärchen. Und dann wird es eben spannend: Geht es danach weiter? Oder schüttet man überall Ketchup drauf? Zucker ist der Anfang, alles andere muss man lernen. Das sage ich auch bei jeder Weinprobe.

Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass man andere Geschmacksnoten lernen müsse?

Mit der kulinarischen Kultur ist es wie mit der Musik. Erst fängst du an mit Kinderliedchen, dann kommt „Hänschen klein“ in C-Dur und natürlich ohne alle Zwischentöne. Wenn man dann das richtige Umfeld hat, hört man irgendwann Pop, dann Rock, dann besseren Rock, dann Jazz und Klassik oder Avantgarde. Aber diesen Weg, diese Entwicklung bekommst du nicht geschenkt, das ist in der Musik so wie bei der Ernährung.

Es wäre also wichtig, schon im Kindesalter Geschmacksbildung zu betreiben?

Ja, natürlich, die kulinarische Bildung bleibt nicht zuletzt deshalb auf der Strecke, weil kaum noch zu Hause gekocht wird. Und: Es muss alles immer billiger werden, das bleibt nicht ohne Folgen. Wenn ich Obst und Gemüse im Schnellverfahren produziere, schmeckt eine Karotte nicht mehr nach Karotte, sondern nach Zucker. Auch Gemüsesorten werden ja immer süßer. Viele teure Markenweine sind fett und breit geworden und alle ein bisschen süßlich. Wir haben heute überall süße Aromen, weil es den einfachen Geschmack
bedient.

Hat die Ketchupisierung des Geschmacks in den vergangenen Jahren erneut zugenommen?

Ja, das ist schwer zu bestreiten, wenn man sich anschaut, was die Leute so essen.

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Ketchup ist verführerisch. Man kocht ein paar Nudeln, schraubt die Flasche auf und hat ein Gericht, das, nun ja, nach etwas schmeckt.

Ja natürlich, und das wird ja auch so propagiert. Die Lebensmittelindustrie weiß natürlich, dass Zucker gut ist, wenn man Masse verkaufen will. Und wenn man überdecken will, dass unter der penetranten Süße ein minderwertiges Produkt steckt.

Wie meinen Sie das?

Zucker ist der billigste Füllstoff. Je schlechter die Lebensmittel sind, die produziert werden, desto mehr Zucker muss hinein, damit man nicht merkt, was wirklich drin ist.

Wenn man sich anschaut, was jugendliche Influencer abfeiern, spielen tatsächlich oft Cocktailsoßen, Ketchup und ähnlich Zuckriges eine Hauptrolle. Es gibt aber auch Contests, die derjenige gewinnt, der die schärfste Soße oder das krasseste Chili isst.

Ja, aber brachiale Schärfe und penetrante Süße sind die zwei Seiten der gleichen Medaille: Ich mag sehr gerne die Schärfe in original asiatischen oder afrikanischen Gerichten, aber das ist eine andere, eine subtile Schärfe. Und damit etwas völlig anderes als die Billigschärfe. Hast du einen alten Fisch, machst du ihn ein bisschen schärfer, ist dein Dessert ein bisschen fade, nimmst du mehr Zucker. Und schmeckt dein Essen nach gar nichts, kippst du Ketchup drauf.