Anfangs haben Melina und Lennart Sievers den Gedanken weit weggeschoben, dass Leif krank sein könnte. Doch immer wieder kamen ihnen die Worte der Oberärztin in den Sinn, die zehn Tage nach der Geburt gesagt hatte, dass sie Leif vielleicht einmal im SPZ vorstellen müssten. „Ich wusste damals gar nicht, was das heißt“, erinnert sich Melina Sievers. SPZ steht für Sozialpädiatrisches Zentrum. Dort werden Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten und gesundheitlichen Störungen behandelt.

Kurz nach der Geburt 2018: Lennart Sievers hält den kleinen Leif im Arm.
Kurz nach der Geburt 2018: Lennart Sievers hält den kleinen Leif im Arm. | Bild: Sievers

Zwei Jahre später sitzt sie einer Ärztin in einem solchen Zentrum in Konstanz gegenüber. Sie eröffnet ihr, dass ihr Sohn eine Seltene Erkrankung hat – das SATB-2-Syndrom. Sie kommt sich vor wie in einem Film. Ihr Mann konnte nicht frei nehmen, als wenige Stunden zuvor die Sekretärin des Zentrums angerufen hatte, um zu fragen, ob sie am selben Tag Zeit für ein Gespräch hätten. Das Ergebnis des Gentests, auf das sie monatelang gewartet hatten, sei da. Das ist jetzt zwei Jahre her – Leif wird im Juni vier Jahre alt.

In Deutschland leben 27 Menschen mit Leifs Gendefekt, weltweit sind es um die 650. Das sind noch viel weniger, als die Definition vorgibt: Danach gilt eine Erkrankung als selten, wenn 5 von 10.000 Menschen davon betroffen sind. 8000 Seltene Erkrankungen sind bekannt.

„Doch jedes Jahr werden 200 bis 300 neue seltene genetisch bedingte Erkrankungen entdeckt“, sagt Helge Hebestreit, Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen am Uniklinikum Würzburg.

„Man würde sich wünschen, es gäbe die magische Pille“: Helge Hebestreit, Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen am ...
„Man würde sich wünschen, es gäbe die magische Pille“: Helge Hebestreit, Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen am Uniklinikum Würzburg | Bild: Dr. Alexandra Hebestreit

So musste auch er sich zunächst über diese Erkrankung informieren, die Informationen im Internet sind rar. Er selbst ist Experte für Mukoviszidose, eine angeborene seltene Stoffwechselerkrankung, an der immerhin 8000 Menschen in Deutschland leiden.

Er kann vieles nicht, was andere Kinder können

Zwischen Leifs erstem und zweiten Lebensjahr zeigte sich immer mehr, dass er nicht wie andere Kinder ist. Während die nur wenige Wochen ältere Tochter von Freunden schon läuft, kann Leif noch nicht stehen. Auch wenn das Paar mit anderen Eltern auf dem Spielplatz ins Gespräch kommt, zeigt sich, dass Leif viele Dinge, die andere Kinder problemlos beherrschen, nicht kann. Auch die Untersuchungen bei der Kinderärztin ergeben starke Entwicklungsverzögerungen.

Melina und Lennart Sievers aus Uhldingen-Mühlhofen mit ihrem fast vierjährigen Sohn Leif. Er kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt.
Melina und Lennart Sievers aus Uhldingen-Mühlhofen mit ihrem fast vierjährigen Sohn Leif. Er kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. | Bild: Hofmann, Birgit

Melina und Lennart Sievers leben heute in einem schönen Reihenhaus in Uhldingen-Mühlhofen, seinem Heimatort. Melina stammt aus Überlingen, beide haben lange in Konstanz gewohnt, wo er an der Uni Wirtschaftswissenschaften studierte, sie jahrelang als Krankenschwester in der Schweiz arbeitete und Leif 2018 zur Welt kam. Der Traum vom gemeinsamen Kind ging für das Paar in Erfüllung.

Eben hat es geklingelt. Vor der Tür steht der Fahrer des inklusiven Kinderhauses in Nussdorf mit Leif auf dem Arm. Er holt den Jungen morgens ab und bringt ihn um kurz vor 14 Uhr wieder nach Hause. An dem Kleinen ist alles zart: Sein Körper, die Arme und Beine, sein feines Gesicht und die blonden Löckchen. Die Erzieherin hat in ein Büchlein notiert, wie es ihm morgens ging, dass er den Einkaufswagen in der Kita für sich entdeckt hat. Ein Foto von ihm hat sie dazu gelegt. Die Sievers freuen sich sehr darüber, denn Leif kann ihnen nichts erzählen.

Leifs Eltern über ihren Sohn Video: Hofmann, Birgit

Obwohl er fast vier ist, kann er nicht sprechen. Er leidet unter Muskelhypotonie, einer Schwäche der Muskeln, in den Turnschuhen trägt er kleine Schienen, sogenannte Orthesen, die über den Knöchel reichen, und ihn stützen.

Diese Stützen trägt Leif in den Schuhen, damit er Halt hat. Seine Gelenke sind überbeweglich.
Diese Stützen trägt Leif in den Schuhen, damit er Halt hat. Seine Gelenke sind überbeweglich. | Bild: Birgit Hofmann

So machte er vor ein paar Wochen die ersten Schritte alleine. Interessiert betrachtet er die Besucherin, gluckst, hebt einen Arm und lacht.

Überhaupt – dieses Lachen. Von Anfang an ist er sehr fröhlich und lacht viel. Doch nie hätten seine Eltern gedacht, dass dieses Lachen eines der Merkmale seines Gendefekts ist.

Auf einem Informationsblatt für Eltern, dass die Erkrankung beschreibt, steht: „Menschen mit dieser Störung sind üblicherweise sehr freundlich und glücklich und haben das schönste Lächeln, das man je gesehen hat.“

In der ersten Zeit nach der Geburt blieb kaum Zeit zum Nachdenken

Melina Sievers hatte eine Schwangerschaftsvergiftung, eine Präeklampsie: Dabei gefährdet ein sehr hoher Blutdruck das Leben von Mutter und Fötus. So wurde Leif schon in der 38. Woche per Kaiserschnitt auf die Welt geholt.

Er war klein, wog nur 2155 Gramm. Seine Atemgeräusche fielen den Ärzten auf. Sonst schien alles in Ordnung, außer dass Leif nicht trinken konnte. Er bekam eine Magensonde, und seine Mutter mühte sich zwischen Abpumpen, Stillen und Wiegen. Zehn Tage nach der Geburt entdeckten die Ärzte, dass der Junge eine Gaumenspalte hatte – die Verbindung vom Mund zum Nasenraum war an einer Stelle offen.

Mit acht Monaten wurde Leif daraufhin an der Uniklinik in Tübingen operiert. Melina Sievers litt da noch an ihrer Wochenbettdepression. „Ich kannte mich selbst nicht mehr“, erinnert sie sich.

Die Sorgen rissen nicht ab

Der Junge bekam einen Fieberkrampf, und seine Eltern riefen den Notarzt. Es folgten viele Untersuchungen und auch ein Gen- und Stoffwechseltest. „Wir haben nicht mit einem Befund gerechnet“, sagt Lennart Sievers. „Es ging ihm ja gut, und er hat sich entwickelt, wenn auch langsam.“

Ursache für das SATB-2-Syndrom ist meist eine Spontanmutation in der Schwangerschaft – so auch bei Leif. In zwei Prozent der Fälle tragen die Eltern den Gendefekt in der Keimbahn mit sich. „In diesen Fällen kann auch mehr als ein Kind aus der Familie betroffen sein“, sagt der Kinderarzt Helge Hebestreit.

Nach dem ersten Schock waren Melina und Lennart Sievers fast erleichtert. Sie hatten sich selbst schon die Schuld gegeben, an sich gezweifelt. Es war schwer, den Großeltern und Freunden von der Diagnose zu erzählen. Doch jetzt wissen alle, warum Leif anders ist – und sie halten zu ihnen. Die Krankheit hat einen Namen, auch wenn es keine Heilung gibt.

Im Nachhinein wurde ihnen vieles klar. So haben diese Kinder schwere Sprechanomalien, oft Gaumenspalten, große Zähne, eine geringe Knochendichte. Es kann zu Krampfanfällen, Schlafproblemen und Wachstumsverzögerungen kommen. „All das ist unser Leif“, sagen seine Eltern über ihren Sohn, der auch nachts oft stundenlang wach ist.

Im US-Bundesstaat Arkansas forscht ein Genetiker zum SATB-2-Syndrom. Ihm stellen sie alle Daten zur Verfügung und tauschen sich mit anderen Angehörigen in einer weltweiten Facebook-Gruppe aus, in Deutschland über WhatsApp. Denn je nachdem, wie die Veränderungen auf dem Gen ausfallen, sind auch die Ausprägungen der Krankheit verschieden. Eines der Kinder, fast so alt wie Leif, kann sich gerade so vom Rücken auf den Bauch drehen.

„Unsere Hoffnung ist, dass er Gebärden lernt, um sich zu verständigen“, sagen die Sievers.

Weil Leif nicht sprechen kann, haben seine Eltern ein Gebärdenbuch für ihn gemacht.
Weil Leif nicht sprechen kann, haben seine Eltern ein Gebärdenbuch für ihn gemacht. | Bild: Birgit Hofmann

In ein kleines Buch haben sie Fotos von ihnen beiden, den Großeltern und seiner Cousine Malea eingeordnet: Mama heißt, sich über die Wange streichen, Papa greift sich an die Nase und Malea legt auf dem Bild beide Hände aufs Herz – weil Leif sie so gern hat und sie ihn.

Wenn sie „Mama“ sagt, streicht sich Melina Sievers über die Wange.
Wenn sie „Mama“ sagt, streicht sich Melina Sievers über die Wange. | Bild: Birgit Hofmann

Leif sitzt im Wohnzimmer auf dem Boden und lässt die Hände vor sich kreisen – fast schon die richtige Gebärde für seine geliebte Holzeisenbahn, mit der er spielt.

Leif spielt Eisenbahn Video: Hofmann, Birgit

Kinder und auch Erwachsene leiden oft unerkannt an Seltenen Erkrankungen. „Leider gibt es viele Erkrankungen, wo wir nichts in Richtung Verbesserung oder Heilung erreichen“, sagt Helge Hebestreit. „Trotz Medikamenten, die genau dafür entwickelt wurden, liegt die Lebenserwartung oft unter zehn Jahre.“ Doch es gibt auch Ermutigendes. So lag die Lebenserwartung bei der Stoffwechselstörung Mukoviszidose einst unter einem Jahr, inzwischen aber bei über 50 Jahren.

„Man würde sich wünschen, es gäbe die magische Pille“, sagt der Würzburger Arzt. Wenn dann ein Kind auf die Welt käme und der Arzt sehe, dass etwas nicht stimme, hätte man innerhalb einer Woche das genetische Ergebnis und könnte ihm ein Medikament geben, woraufhin es sich völlig normal entwickele. „Das werden wir möglicherweise für manche Erkrankungen nie erreichen“, so Hebestreit, „für andere aber schon.“

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Eva Luise Köhler und ihr Mann, Ex-Bundespräsident Horst Köhler, engagieren sich mit ihrer Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Die Ärzte stünden oft mit leeren Händen da vor den verzweifelten Eltern, sagt sie. „Viele Familien zerbrechen daran, auch angesichts des extrem fordernden Alltags. Andere wachsen über sich hinaus: Sofern sie über die notwendigen Ressourcen an Zeit, Kraft und Bildung verfügen, vernetzen sie sich weltweit mit Wissenschaftlern und Betroffenen, um unermüdlich die Forschung voranzutreiben“, beschreibt Eva Luise Köhler.

Leifs Organe sind zum Glück gesund, so hat er die Chance auf ein langes Leben. Es gibt Tage, an denen seine Eltern sich fragen, was wäre, wenn ihr Kind gesund wäre. „Doch dann“, sagen sie, „hätten wir unseren Leif nicht.“ Ihn lieben sie über alles.