Herr Frei, Sie haben die Sicherheitslage in Afghanistan lange beschönigt, sehen Sie das heute auch so?

Nach dem Abzug der Amerikaner und der Bundeswehr hat es eine beispiellose Entwicklung in Afghanistan gegeben. Niemand, weder Regierungen noch Nachrichtendienste, hat vorhergesehen, dass innerhalb weniger Tage das gesamte Land von den Taliban überrannt wird und die afghanischen Sicherheitskräfte es ihnen kampflos überlassen. Wie es zu dieser kolossalen Fehleinschätzung kommen konnte, wird man aufklären müssen.

Sie haben immer wieder betont, dass die Sicherheitslage in Afghanistan sehr unterschiedlich sei. Noch im Juni hatten Sie gesagt: „Wenn man auf das Vordringen der Taliban schaut, dann betrifft das vielleicht zehn von 400 Distrikten.“ Da waren die Truppen noch nicht abgezogen, der Trend doch aber erkennbar. Binnenflüchtlinge gab es bereits. Wie konnten Sie die Lage so falsch einschätzen?

Die afghanischen Sicherheitskräfte umfassten zuletzt rund 300.000 Mann. Sie sind über Jahre mit Milliarden von westlichen Staaten ausgerüstet und trainiert worden. Sie waren damit den Taliban deutlich überlegen und haben sich gleichwohl nun kampflos innerhalb weniger Wochen ergeben. Nach meinem Eindruck hat dieser fehlende Kampfeswille alle westlichen Staaten überrascht. Weder die USA noch die Bundesregierung und auch ich persönlich haben Mitte Juni den raschen Zusammenbruch Afghanistans vorgesehen. Der letzte Lagebericht des Auswärtigen Amtes, der auf den 15. Juli datiert, ging immer noch von einer unveränderten Sicherheitslage aus.

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Die Gefährdung der Ortskräfte war doch absehbar. Den Antrag der Grünen vom 23. Juni, die Ortskräfte schnellstmöglich auszufliegen, hat die Union dennoch abgelehnt...

In der Debatte um die Aufnahme von Ortkräften habe ich immer betont, dass Deutschland ein verlässlicher Partner sein muss: Wer an unserer Seite in Afghanistan gekämpft und für Frieden und Demokratie gestritten hat, muss sich auf uns verlassen können. Menschen, denen aus ihrer Arbeit für Deutschland eine persönliche Gefährdung erwachsen ist, wollen wir nicht schutzlos zurückzulassen. Der Antrag der Grünen zielte jedoch auf eine unterschiedslose Aufnahme, gleichgültig ob eine Bedrohung vorlag oder nicht. Vor dem Hintergrund der damaligen Einschätzung der Sicherheitslage war das nicht gerechtfertigt. Nachdem sich die Lage verändert hat, haben wir das Verfahren beschleunigt und unbürokratischer gestaltet.

Die Sicherheitslage war doch schon im Juni bedenklich…

Noch vor wenigen Tagen kamen die USA zu der Einschätzung: Kabul könnte schlimmstenfalls in zwei bis drei Monaten fallen. Tatsächlich geschah das dann in wenigen Stunden später. Niemand ging davon aus, dass sich die Dinge so entwickeln würden, wie sie sich entwickelt haben.

Das Auswärtiges Amt hat die Lage offensichtlich falsch eingeschätzt. Welche Konsequenzen muss das haben, insbesondere für Heiko Maas? Und welche Verantwortung trägt die Bundesregierung?

Alle Akteure in Deutschland greifen auf die Lageberichte des Auswärtigen Amts zurück. Diese brauchen einen gewissen Vorlauf, keine Frage, aber dieser Lagebericht ist maßgebend für Parlamentarier, für die öffentliche Verwaltung und Gerichte, die über Fragen der Schutzbedürftigkeit zu entscheiden haben. Wir brauchen in solchen Situationen schnelle und zuverlässige Informationen. Worauf sollen sich Entscheidungsträger beziehen, wenn nicht auf die Informationen des Auswärtigen Amts und des Diplomatischen Diensts, die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse?

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War es wirklich so unvorhersehbar, dass die afghanische Armee den Taliban das Feld überlassen würde? Ortskräfte berichten uns, dass es viele Mitglieder im Militär gab und gibt, die für die Taliban gearbeitet haben.

In 20 Jahren ist es gelungen, für eine relative Stabilität und Sicherheit zu sorgen sowie eine Zivilgesellschaft aufzubauen. Was wir in den letzten Tagen gesehen haben, zeigt, dass das nicht nachhaltig war. Natürlich kennen wir die Probleme im Land: Man denke an die Präsidentschaftswahlen, wo es letztlich um die Frage ging, wer das Wahlergebnis weniger stark gefälscht hat. Es ist erschütternd, den Machtkampf in diesem Land zu sehen, regiert von Korruption und Nepotismus. Die Taliban haben sich immer geweigert, mit der afghanischen Regierung zu sprechen. Ich kann aber nicht ausschließen, dass es solche Absprachen gegeben hat.

Sehen Sie dafür die Verantwortung auch bei den Amerikanern, die ihren Truppenabzug so schnell vollzogen?

Präsident Joe Biden hat am 15. April den Abzug sogar noch beschleunigt und konditionslos gemacht. Damit wurden die Handlungsspielräume aller anderen Partner auf Null reduziert. Hätte er gewusst, was die Konsequenzen sind, hätte er sicher anders entschieden.

Der Flughafen in Kabul in Afghanistan: US-Soldaten bewachen eine Absperrung am internationalen Flughafen. Afghanen, die vor den Taliban ...
Der Flughafen in Kabul in Afghanistan: US-Soldaten bewachen eine Absperrung am internationalen Flughafen. Afghanen, die vor den Taliban fliehen wollten, rannten auf das Flugfeld, um in Sicherheit gebracht zu werden. | Bild: -/AP/dpa

Trotzdem haben Sie noch im August Abschiebungen nach Afghanistan befürwortet, als die Taliban bereits dabei waren, das Land zu erobern. Warum?

Unter den heutigen Erkenntnissen würde ich das nicht mehr sagen. Zum damaligen Zeitpunkt habe ich mich so geäußert wie der Innenminister auch. Horst Seehofer hat davon gesprochen, dass die Abschiebungen temporär ausgesetzt werden. Dass das aber keine generelle Entscheidung wäre. Genauso habe ich mich geäußert, aber auch darauf hingewiesen, dass die Sicherheitslage vor Ort entscheidend ist. Wenn es die Sicherheitslage ermöglicht, ja, wenn nicht, dann nein. Heute ist aber vollkommen klar, dass Abschiebungen auf absehbare Zeit nicht möglich sein werden.

Wissen Sie, was mit den bereits Abgeschobenen passiert ist? Wo sind diese Menschen jetzt?

Wir haben seit 2016 etwa 1000 Afghanen abgeschoben. Sie werden am Flughafen den Behörden übergeben, bekommen eine gewisse Unterstützung, damit sie in ihre Herkunftsregionen zurückkehren können. Sie teilen uns ihren Aufenthaltsort nicht mit.

Das ist ja nun nicht mehr möglich. Wie viele Menschen stehen derzeit noch auf der Abschiebeliste?

Heute leben etwa 270.000 bis 280.000 Afghanen in Deutschland, von denen eigentlich etwa 30.000 ausreisepflichtig wären. Aber nur etwa 1000 wurden in sechs Jahren zurückgeführt. Aber in Afghanistan ereignet sich eine humanitäre Katastrophe. Es wird auf absehbare Zeit keine Rückführungen mehr geben.

Sie haben sich lange gegen die Aufnahme von allen Ortskräften gestellt. Uns haben Sie gesagt, dass die „Annahme besteht, dass mit längerem zeitlichen Abstand zur Beschäftigung bei den Ressorts auch die Gefährdung der Ortskraft abnimmt“. Bleiben Sie auch heute bei dieser Einschätzung?

Ich habe mich nicht gegen die Aufnahme von Ortkräften gestellt. Deutschland hat im Übrigen seit 2013 schutzbedürftige Ortkräfte aufgenommen. Seit Beginn des Verfahrens sind bis Ende Juni rund 800 Ortskräfte mit zuzüglich 2598 Familienangehörigen eingereist. Ich habe allerdings immer betont, dass eine Schutzbedürftigkeit vorliegen muss. Als sich die Sicherheitslage weiter verschlechtert hat, haben wir Mitte Juni entschieden, dass man grundsätzlich alle Ortkräfte ins Schutzprogramm aufnimmt.

Hunderte von Menschen versammeln sich vor dem internationalen Flughafen in Kabul, um außer Landes zu kommen.
Hunderte von Menschen versammeln sich vor dem internationalen Flughafen in Kabul, um außer Landes zu kommen. | Bild: -/AP/dpa

Trotzdem lief das nur schleppend an…

Nach dem Abzug der Bundeswehr waren die operativen Herausforderungen enorm. Das Auswärtige Amt musste zunächst die Zusammenarbeit mit dem IOM suchen. Niemand ist davon ausgegangen, dass uns für die Evakuierung nur sechs Wochen bleiben würden.

Noch sitzen Ortskräfte in Afghanistan fest. Welche Informationen haben Sie über die noch verbleibenden Ortskräfte?

Die Bundesregierung wird alles in ihrer Macht stehende versuchen, um ehemalige Ortskräfte zu kontaktieren und zu evakuieren. Ich hoffe, dass wir den Flughafen in Kabul lange genug offenhalten können.

Armin Laschet und andere führende CDU-Politiker sprechen aktuell davon, dass sich 2015 nicht wiederholen darf. Ist das aktuell die größte Sorge der CDU in Bezug auf Afghanistan?

Die oberste Priorität ist, dass wir die deutschen Staatsbürger und Ortskräfte und jene, die sich in der Zivilgesellschaft besonders exponiert haben und entsprechend gefährdet sind, schützen und aus dem Land herausholen.

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Aber er hat auch vor einer neuen Flüchtlingswelle gewarnt…

Armin Laschet hat deutlich gemacht, dass es zu einer Fluchtbewegung in die Nachbarstaaten kommen kann und er hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass wir aus 2015 lernen müssen. Damals hatte der Bürgerkrieg eine hohe regionale Dynamik entwickelt, internationale Hilfsorganisationen hatten darauf hingewiesen, dass sie nicht mehr die nötigen Mittel haben, die Menschen zu versorgen, die in Nachbarländer wie Jordanien geflohen waren. Damals hat die Weltgemeinschaft nicht schnell genug reagiert und dafür gesorgt, dass diese Flüchtlingscamps mit allem Nötige ausgestattet werden, mit den bekannten Folgen. Das muss dieses Mal anders laufen – und diese Lehre halte ich für richtig.

Trotzdem klingen Laschets Äußerungen nach Panikmache vor einer neuen Flüchtlingswelle, möglicherweise an ein weiter rechts orientiertes Publikum…

Das ist falsch, weil Laschet eine klare Position vertritt – Ortskräften so schnell wie möglich zu helfen.

Wie groß ist die Flüchtlingswelle, mit der Sie rechnen? Welche Anzeichen sehen Sie dafür?

Ich glaube, das kann man nicht genau beziffern. Aber das UNHCR geht in Afghanistan von 2,9 Millionen Binnenflüchtlingen und 2,6 Millionen Flüchtlingen außerhalb des Landes aus. Wöchentlich verlassen etwa 30.000 Afghanen das Land, insbesondere in die Nachbarländer. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass es immer auch dazu führt, dass Flüchtlinge nach Europa und Deutschland kommen. In welchem Umfang, wird entscheidend davon abhängen, ob es in der Region genügend Versorgung gibt oder nicht.