Was steckt hinter der zeitlich unbefristeten Beurlaubung von Georg Gänswein? Ist er damit kirchenpolitisch kaltgestellt oder befindet er sich nur in einer langen Warteschleife? Fragen dieser Güteklasse kann nur ein Vatikanist beantworten – jene seltene Sorte an Journalisten, die sich ausschließlich mit den Männern im Zentrum der katholischen Kirche beschäftigen. Marco Politi, 65, ist einer von ihnen und einer der hochkarätigsten, die Volkshochschule hatte ihn nach Radolfzell eingeladen.

Für Politi ist klar: Während der Amtszeit von Papst Franziskus wird Kurienerzbischof Gänswein nicht mehr ins glanzvolle Amt des Protokollchefs zurückkehren. Er kümmert sich seitdem um Benedikt XVI. – und das ausschließlich. Das Pendeln zwischen beiden Päpsten – als Diener zweier Herren – wird unter dem Argentinier Bergoglio nicht mehr sein. Zu tief sei der Vertrauensbruch, sagt Politi.
Das Jahr, als Benedikt sein Schweigen brach
Fünf Jahre lang lief die Arbeit für zwei Päpste reibungslos gut. Georg Gänswein war Präfekt für den neuen Papst und Alltagsbegleiter für seinen Vorgänger. „Er nahm eine loyale Position ein“, sagt Politi. Der Bruch trat vor etwa zwei Jahren ein, als die vatikanischen Spitzen erneut mit dem Missbrauchsskandal konfrontiert waren (2018).

Benedikt XVI. griff erstmals in die Diskussion ein, er schob die Verantwortung für den massiven Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche der „Generation 1968“ und dem aufkommenden Liberalismus in die Schuhe. Dabei hatte der Alt-Papst beim Amtswechsel 2013 gelobt, sich weder durch Kommentare noch durch Handlungen in die Arbeit des Nachfolgers zu drängen.
Gänswein ist seiner Aufgabe nicht nachgekommen, sagt der Analytiker
Noch drastischer ging Joseph Ratzinger vor, als es um die Zulassung verheirateter Männer zum Priesteramt ging. Er nahm Stellung für die Beibehaltung des Zölibats und hatte damit aus Sicht von Franziskus ein zweites Mal sein Versprechen gebrochen, sich nicht in die Geschäfte der Kirchenleitung einzumischen.

„Monsignore Gänswein hätte Benedikt bremsen müssen“, sagt Politi. Seine Aufgabe liege nicht nur in der persönlichen Betreuung seines Chefs, sondern auch in der Eingrenzung und Einhegung möglicher kirchenpolitischer Aktivitäten. Dieser Aufgabe sei er nicht nachgekommen, und das habe seinen Sturz verursacht. Seit seiner dauerhaften Beurlaubung wurde der 63-Jährige aus dem Zentrum des Geschehens entfernt. Auf aktuellen Bildern der großen Papstaudienzen auf dem Petersplatz sitzt jetzt ein anderer auf Gänsweins Platz.
„Er ist eine interessante Figur“
Politi nennt den Monsignore aus dem Schwarzwald „eine interessante Figur.“ Er sei nicht der typische Papstssekretär, der unsichtbar wirke und das Mittagessen organisiert. Vielmehr sehe er sich als „theologischer Assistent“, der inhaltlich denke und voll hinter den stramm konservativen Interventionen seines Chefs Benedikt XVI. stehe, die wiederum dem amtierenden Pontifex schaden. Deshalb der erzwungene Abgang. Die „Quarantäne“ (Politi) werde aber nicht auf Dauer sein. Der Vatikanist sieht Georg Gänswein eines Tages auf einem Bischofsstuhl in Deutschland.
Das „Säuberungsprogramm“ des Papstes
Die Personalie sei Teil eines umfassenden „Säuberungsprogramms“, wie es Politi nennt. Auch der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller musste gehen, weil er den Papst in die Nähe der Ketzerei gerückt hatte. Und vor einigen Tagen wurde Angelo Becciu gestürzt, der die Verantwortung für Veruntreuung in Millionenhöhe trägt.

Marco Politi sprach auf Einladung der Volkshochschule im Landkreis Konstanz. Wegen steigender Coronafälle hatte er auf die Zugreise nach Deutschland kurzfristig verzichtet und war über einen Bildschirm ins Milchwerk in Radolfzell zugeschaltet. So konnte die Veranstaltung gerettet werden.