Gut 20 Jahre nach dem Pisa-Schock ist es wieder soweit: Pisa stürzt Deutschland in die Identitätskrise. Sind wir noch Bildungsnation? Können wir den Wirtschaftsstandort Deutschland mit diesen jungen Menschen in Zukunft noch nach vorne bringen? Und wie, zum Pythagoras, sollen wir diese Misere wieder in Ordnung bringen? Ist das überhaupt möglich in einem Deutschland, in dem allerorten die Fachkräfte fehlen, natürlich auch Lehrer, und in dem auch sonst nichts mehr zu klappen scheint? Man könnte geradezu verzweifeln angesichts der Problemstellung der deutschen Bildungsmisere.
Die Tendenz ist seit 2012 klar
Muss man aber nicht. Tatsächlich sind die Nöte der Schulen ja bekannt. Überrascht hat die Experten nur das Ausmaß des Versagens unserer 15-Jährigen. Die Corona-Pandemie hat hierzulande, wo kaum Erfahrung mit digitalem Lernen vorhanden war, noch mehr durchgeschlagen als in anderen Ländern. Das allerdings hat die Kurve nur noch mehr zum Absturz gebracht. Die Tendenz zu immer schwächeren Ergebnissen in Mathe, Deutsch und Naturwissenschaften ist seit 2012 deutlich ablesbar.
Schon damals war klar, wo die Schwierigkeiten liegen: Bildungsforscher sagten voraus, dass sich die Schülerschaft stark verändern würde, dass deutlich mehr Zuwandererkinder an den Schulen sein würden – und diese darauf nicht vorbereitet seien. Heute haben deutschlandweit 26 Prozent aller Schüler eine Zuwanderergeschichte, in Baden-Württemberg waren es bei den Neuntklässlern 2022 sogar 46 Prozent. Auf die Zuwandererwellen seit 2015 aber waren die Schulen nur unzureichend vorbereitet.
Zwei Schuljahre Rückstand
Die Folgen zeigen sich heute auch beim Mathe-Test: Wer des Deutschen nicht mächtig ist, kann logischerweise auch in Mathematik nicht folgen, genauso wie in so ziemlich allen anderen Fächern. 67 Punkte beträgt der Rückstand der Zuwandererkinder der ersten Generation in der Lesekompetenz, hat die Pisa-Studie herausgefunden – das sind umgerechnet fast zwei Schuljahre.
Die Folgen für das spätere Leben der Kinder sind dramatisch: Viele seien nicht einmal zu einfachster Alltagsbewältigung in der Lage, wie Sonderangebote im Supermarkt zu durchschauen, befürchten die Pisa-Forscher. Ausbildungsabbrüche in Serie sind eine schlimmere Folge.
Ohne Zweifel ist die mangelnde Integration von Zuwandererkindern nicht das einzige Problem, mit dem die Schulen konfrontiert sind, aber eben doch ein zentrales. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Deutschland hat kein Zuwandererproblem. Es geht nicht darum, den Kindern die Schuld an ihren schlechten Deutschkenntnissen zu geben. Auch die Eltern darf man dafür nur bedingt in Haftung nehmen.
Die Verantwortung dafür tragen auch nicht die Lehrer, in deren Klassen nun eben auch ein paar Ukrainer sitzen, die mehr schlecht als recht folgen können. Nein, das Versagen muss sich schon die Politik ankreiden. Diese Kinder und Jugendlichen werden sträflich vernachlässigt.
Bildung beginnt schon im Kindergarten
Deshalb verwundert auch die nonchalante Reaktion Winfried Kretschmanns auf die Pisa-Ergebnisse. Baden-Württembergs Ministerpräsident sieht die Ursachen in der veränderten Welt und beim fehlenden Bildungs- und Leistungswillen. Man könne Eltern nicht zwingen, ihren Kindern vorzulesen. Ganz genau kenne er die Gründe aber auch nicht. Außerdem sei man mit dem Fokus auf die frühkindliche Bildung ja auf dem richtigen Weg.
Richtig ist: Die Sprachkompetenz darf nicht erst ab der ersten Klasse erworben werden. Wer wenig oder kein Deutsch spricht, muss zwingend schon im Kindergarten aufholen. Dass Baden-Württemberg das Thema angeht, ist die korrekte Schlussfolgerung. Und doch muss sich Kretschmann die Frage gefallen lassen, warum baden-württembergische Schüler seit Jahren in diversen Bildungstests schlecht abschneiden.

Ausgerechnet der ehemalige Lehrer Kretschmann will mit diesem Thema nicht behelligt werden. Man dürfe, wird aus der Landespressekonferenz berichtet, nicht alles bei der Politik abladen. Windkraft und Autos werden zur Chefsache erklärt – aber Kinder, das Zukunftspotenzial schlechthin, nicht? Wie kann das sein?
Mit Bildung, so der Verdacht, lässt sich politisch eben kein Blumentopf gewinnen. Wenn das die Lage in Deutschland 2023 ist, dann sind die Aussichten in der Tat ziemlich düster. Es bräuchte neben einem Stück Gelassenheit den Willen, die Dinge anzupacken – auch auf die Gefahr hin, dass dort kein schneller Erfolg wartet. Doch dieser Wille ist nicht zu erkennen. Das Ziel ist nicht, von heute auf morgen alles umzukrempeln – Bildungsreformen gab es genug. Das Ziel ist, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Pisa-Kurve wieder nach oben geht.