Zwölf Jahren reichten. Ihr gesamtes Berufsleben kümmert sich Michaela Pitz um Senioren. „Es ist mein Traumjob, ich liebe meine Arbeit, wollte immer etwas verändern“, sagt die 30-jährige Pflegefachkraft. Sie geht ihr noch immer nach – aber nicht mehr in Deutschland.

Seit Oktober 2020 pendelt sie jeden Tag aus Behla, einem Stadtteil von Hüfingen (Schwarzwald-Baar-Kreis), in ein Pflegeheim ins schweizerische Schaffhausen.

Stellvertretend für die gesamte Region erklärt Walter Nägele, Sprecher der Arbeitsagentur Konstanz-Ravensburg: „Für Grenzpendler gibt es durchaus attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten in der Schweiz.“ Trotz Corona führten die für den Arbeitsmarkt im Nachbarland zuständigen Eures-Berater eine beständig hohe Zahl an Gesprächen.

50 Minuten Fahrtzeit vom Schwarzwald nach Schaffhausen

Klar, da geht es sicher ums Geld. Schließlich verdient man in der Schweiz mehr – so lautet die schnelle Antwort. Für Michaela Pitz lohnen sich also schnell auch 50 Minuten Fahrtzeit täglich. Aber das ist nur die verkürzte Antwort. Denn laut Pitz war es weniger das Gehalt als die deutlich besseren Arbeitsbedingungen, die sie aus dem einheimischen Arbeitsmarkt über die Grenze trieben.

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Ja, sie bekomme jetzt deutlich mehr, sagt sie. Obwohl sie nur zu 80 Prozent arbeitet, liege ihr Netto-Gehalt laut ihrer Angaben um 1100 Euro höher als bei einer Vollzeitstelle ihres früheren Arbeitgebers, einer öffentlichen Einrichtung im Schwarzwald-Baar-Kreis. Der Corona-Bonus, den sie wie zumindest der Großteil der Pflegekräfte erhielt, war nur ein schwacher Trost.

Einzige Pflegefachkraft für mehr als 40 Senioren

„Aber wenn ich nicht selbst irgendwann gesundheitlich nicht mehr gekonnt hätte, würde ich auch heute nicht wegen des Geldes in der Schweiz arbeiten“, sagt die junge Frau. Über die Jahre kam auf sie immer mehr Verantwortung und damit auch Druck zu. Kurz bevor sie kündigte, sei sie oft als einzige Pflegefachkraft für deutlich mehr als 40 Bewohner ihrer Station zuständig gewesen.

Die übrigen Kollegen ihrer Schicht seien entweder geringer ausgebildet gewesen, etwa als Pflegeassistent oder -helfer. Oder es habe sich um Praktikanten gehandelt. Pitz habe damit die alleinige medizinische Verantwortung getragen, sagt sie. „Das war Stress hoch zehn.“

Am Arbeitgeber lag der Wechsel in die Schweiz nicht

Dass sie nicht wie jetzt ihren Alltag als „tägliches Paradies auf Erden erlebt“, habe nichts mit ihrem vorigen Arbeitgeber zu tun. Das ist ihr wichtig zu betonen: „Ich will dort niemanden verantwortlich machen, da hat niemand etwas falsch gemacht. Das Team ist auch toll, da gibt jeder, was er kann.“

Dabei ist es nicht so, dass die junge Frau keine begehrte Fachkraft wäre. Trotz Corona meldeten die Arbeitsagenturen in Südbaden auf Anfrage der Redaktion offene Stellenangebote, und zwar in der Pflege insgesamt sowie speziell im Bereich der Altenpflege.

Arbeitsagenturen zuversichtlich: Immer mehr Stellen in der Pflege besetzt

Arbeitslose gibt es dagegen seit Jahren quasi keine. Zwar wurden von den Agenturen insgesamt zuletzt weniger offene Stellen gemeldet; was laut den Sprechern für die Gebiete Konstanz-Ravensburg, Lörrach sowie Rottweil-Villingen-Schwenningen ein Indiz sei, dass „immer mehr Stellen erfolgreich und langfristig besetzt werden konnten“.

Andererseits herrscht innerhalb der Region ein Ungleichgewicht. Allein im Heimatlandkreis von Michaela Pitz gab es in ihrem Fachgebiet im Februar 2021 knapp 30 freie Stellen. Sie hätte sich also mühelos auch andernorts in der Region nach etwas Neuem umsehen können.

Dass sie sich aus mangelnder Wertschätzung für soziale oder pflegende Berufe jenseits der Grenze orientierte, ist kein Einzelfall. Das zeigt eine kleine Umfrage dieser Zeitung unter Grenzgängern aus Deutschland. Immer wieder lautet das erstgenannte Argument: Hier sind die Bedingungen einfach besser.

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5000 statt 1500 Euro netto: „Fühle mich plötzlich reich“

„Dazu gehört eben auch eine angemessene Bezahlung“, gibt Christiane Ditz zu bedenken. Die 30-jährige Logopädin arbeitet seit Sommer 2020 nicht nur in Küssnacht bei Zürich. Nachdem sie drei Monate aus Konstanz pendelte, ist sie inzwischen umgezogen.

Die hohen Lebenshaltungskosten in der Schweizer Bankenmetropole? Dank in ihrem Fall vielfach höherem Verdienst – umgerechnet rund 5000 statt 1500 Euro netto – „fühle ich mich trotzdem plötzlich reich“, sagt Ditz. Ihre frühere Bezahlung stehe nicht im Verhältnis zu ihrer Ausbildung: Sie hat in den Niederlanden Logopädie studiert.

Ausbildung zum Logopäden kostet häufig Schulgeld

Selbst schuld, könnte man der jungen Frau entgegenhalten: In Deutschland brauchen Logopäden kein Studium, die Ausbildung findet klassisch in Berufsfachschulen statt. Doch genau das sei der Punkt, erklärt Christiane Ditz: Die Art der Ausbildung für Pflege- oder Heilberufe sei ein Spiegel der allgemein mangelnden Wertschätzung. Davon abgesehen, dass es für ihren Fall nur wenige staatliche Logopädie-Schulen gibt und private Einrichtungen teils mehrere Hundert Euro Gebühren monatlich verlangen.

„Das ist zwar in vielen Ländern so, aber ich erlebe Deutschland da als negatives Extrem“, sagt die 30-Jährige, „dabei würde bei einem Architekten doch auch niemand hinterfragen, warum man dazu studiert haben muss.“ Es gelte nun einmal: Wer studiert, habe auch eine bessere Ausbildung.

Erst in jüngerer Zeit wurde der Einstieg als Logopäde erleichtert. Nordrhein-Westfalen hat seit 2021 das Schulgeld ganz abgeschafft, Baden-Württemberg hat sich das immerhin als Ziel gesetzt. Dass es dringend ist, zeigen Berichte von Logopädie-Praxen insbesondere im ländlichen Raum, die mangels Bewerber schließen.

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Noch einmal zurück nach Deutschland? „Nicht als Logoädin“

Die positive Kehrseite sieht Ditz nun an ihrem neuen Arbeitsort: „In der Schweiz wird meine Meinung geschätzt, ich werde als Expertin für mein Fachgebiet angesehen.“ In Küssnacht arbeitet sie für mehrere Schulen. Dass diese neben Lehrern unter anderem auch Logopäden beschäftigen, sei keine Ausnahme, sondern der Normalfall und diene der Unterstützung von Schülern mit Kommunikations-Schwierigkeiten.

„In Deutschland war ich mehr mit Dokumentation oder der Auseinandersetzung mit Krankenkassen beschäftigt als mit meiner fachlichen Arbeit“, sagt Ditz. Sollte sie jemals zurück ins Heimatland kommen, „dann sicher nicht mehr als Logopädin“, stellt sie betrübt fest.

Plötzlich Zeit für Heimbewohner und Angehörige

Auch für Schwarzwälderin Michaela Pitz kommt eine Rückkehr vorerst nicht in Frage. Nicht wegen des Gehalts, selbst wenn sie sicher ist, dass eine bessere Bezahlung etwas am allgemeinen Notstand ändern könnte. Nicht einmal wegen der besseren technischen und medizinischen Ausstattung im Schaffhauser Pflegeheim, wo „es nie an irgendetwas fehlt“, wie sie selbst sagt.

Erlebt man sie im Gespräch, fällt stattdessen ihr Strahlen auf, wenn sie von der Freundlichkeit der Heimbewohner und ihrer Angehörigen berichtet – vor allem aber von der Zeit, die ihr für diese plötzlich bleibt: Morgens drei statt neun Menschen zu pflegen, das macht einen Unterschied.

Es mag nur ein Beispiel sein dafür, was die 30-Jährige nach einem halben Jahr in der Schweiz zu schätzen gelernt hat, aber es ist anschaulich: „Als ich einmal 20 Minuten in ein Gespräch mit Angehörigen verwickelt war, habe ich mich kaum getraut danach zu meiner Kollegin zu gehen.“ Als sie sich danach bei ihr entschuldigte, „hat sie mich nur verwundert angeschaut und gefragt: ‚Michaela, warum entschuldigst du dich dafür?‘“