
In Deutschland leben, in der Schweiz arbeiten. Für mehr als 60.000 Menschen bedeutet das: Berufsalltag. Sie sind Grenzgänger. Manchmal, weil es in Deutschland keine passende Stelle gibt. Häufig, weil man in der Schweiz deutlich besser verdient – insbesondere im Dienstleistungssektor, wie der Blick auf die Verteilung der Grenzgänger zeigt.
In der Schweiz bezahlen Discounter das Doppelte
Beispiel gefällig? Der Discounter Aldi bezahlte seinen Mitarbeitern in der Schweiz Ende 2020 mindestens 13 Monatsgehälter à 4440 Franken (rund 4100 Euro). Zwar gilt dafür auch die übliche 42-Stunden-Woche. Angesichts eines von Aldi angegebenen Mindestlohns über 12,50 Euro je Stunde (monatlich also circa 2000 Euro) in Deutschland bleibt der Unterschied gewaltig. Die Kette Lidl und einheimische Ketten wie Migros oder Coop bezahlen monatlich ebenfalls mindestens 4000 Franken und mehr für ungelernte Kräfte, wie die Deutsche Presse-Agentur kürzlich meldete.
Arbeitslosenquote in der Schweiz bei 10-Jahres-Hoch
Allerdings hat die Corona-Krise auch vor dem Schweizer Arbeitsmarkt nicht Halt gemacht: Ende Januar 2021 lag die Arbeitslosenquote bei 3,7 Prozent – es ist der höchste Wert seit April 2010. Als Corona Anfang 2020 auch in Europa ankam, betrug die Quote noch 2,6 Prozent. Haben das auch Arbeitnehmer aus Deutschland zu spüren bekommen? Waren sie eher von Entlassungen betroffen als Schweizer Kollegen?

Genaue Statistiken über Menschen mit Wohnsitz in Deutschland, die 2020 ihren Job in der Schweiz verloren haben, gibt es nicht – aus keinem der beiden Länder. Aber: Es gibt Anhaltspunkte, aus denen sich Rückschlüsse auf die Entwicklung ziehen lassen. Angefangen von der Zahl der neu gemeldeten Arbeitslosen bis zu den ausgestellten Bewilligungen für Grenzgänger (Ausweis G).
Verlieren Grenzgänger vermehrt ihren Job?
Melanie Payer erklärt auf Anfrage: Der Anteil der neuen Arbeitslosen, die zuvor in der Schweiz beschäftigt waren, werde nicht separat erfasst. Die Sprecherin der Arbeitsagentur Lörrach ist zuständig für die Kreise Lörrach und Waldshut und ergänzt: „Nach Rücksprache mit der Fachabteilung gibt es allerdings keine Anzeichen, dass Grenzgänger mehr oder weniger stark von Arbeitslosigkeit betroffen waren als in den Vorjahren.“
Diese Regeln gelten für Grenzgänger in der Corona-Krise
Es deutet somit wenig darauf hin, dass deutsche Arbeitnehmer besonders bedroht von Entlassungen waren. Allerdings scheint sich ein vor einigen Jahren einsetzender Trend fortzusetzen: In die Schweiz zur Arbeit zu pendeln, wird weniger attraktiv.
In welchen Kantonen arbeiten deutsche Grenzgänger?
Beleg dafür ist die aktuelle Zahl der Grenzgänger. Sie ist im Corona-Krisenjahr 2020 zwar auf den Höchstwert von rund 62.000 gestiegen. Hauptmagneten sind die Region Basel und der Aargau, wie die Verteilung der Grenzgänger auf die Kantone zeigt.
Andererseits stieg diese Zahl im Vergleich zu 2019 nur um vergleichsweise niedrige 1,1 Prozent. Im Zeitraum von 2005 und 2016 war das Wachstum noch deutlich größer.
Weniger Erstbewilligungen für Grenzgänger-Ausweis
Erkennbar wird dieser Trend auch anhand der vom Schweizer Staatssekretariat für Migration erfassten Grenzgänger-Neubewilligungen. Der sogenannte Ausweis G wurde 2020 an knapp 4700 Personen erstmals herausgegeben, ein neuer Tiefststand. 2015 waren es noch um die 1000 Erstempfänger mehr.
Woran liegt die Entwicklung?
Die Gründe für den kontinuierlichen Rückgang neuer Grenzgänger seien vielschichtig, erklärt Roland Scherer. Er pendelt nicht nur selbst beruflich von Konstanz an die Universität St. Gallen. Der Verwaltungswissenschaftler ist Direktor des Instituts für Systemisches Management und Public Governance, einer seiner Schwerpunkte ist die Regionalforschung im Grenzgebiet.
„Die Gehälter vieler Branchen in Deutschland sind in den vergangenen Jahren gestiegen und der Arbeitsmarkt hat sich hierzulande generell positiv entwickelt“, sagt Scherer.

Welche Branchen entwickeln sich für Grenzgänger positiv?
Ein Blick in die amtliche Schweizer Statistik zeigt: Unternehmen aus den Bereichen Chemie, Medizin und Gesundheit oder IT erhielten – entgegen dem rückläufigen Gesamttrend – sogar mehr Erstbewilligungen für deutsche Grenzgänger. Auf der anderen Seite gab es vor allem für Firmen aus der Textilindustrie – neben dem vom Lockdown besonders stark getroffenen Gastgewerbe – deutlich weniger Anlass, Grenzgängerausweise zu beantragen.
„Finanzielle Unterschiede zwischen zwei benachbarten Ländern verstärken Grenzbewegungen“, erklärt Scherer zudem. Das mache sich nicht nur bei deutschen Berufspendlern bemerkbar. „Beim Einkaufstourismus verhält es sich ähnlich.“ Günstigere Produkte, ein starker Franken und Vorteile durch die Mehrwertsteuer-Rückerstattung erhöhte die Anziehungskraft von deutschen Geschäften für Schweizer Kunden.
In den 70er- oder 90er-Jahren standen die Vorzeichen andersherum und Deutsche sparten beim Einkauf in der Schweiz. Zuletzt erlebte man das noch beim sogenannten Tanktourismus. Finanzielle Angleichungen wirkten dagegen ähnlich wie Verschärfungen im Grenzverkehr: Beides senkt laut Scherer die Attraktivität für Grenzpendler.
Änderung im Steuerrecht: Netto-Verdienst für Grenzgänger sinkt
Noch stärker ins Gewicht fällt die geänderte Bewertung der Schweizer Pensionskasse im deutschen Steuerrecht. Der Bundesfinanzhof hatte die Gleichsetzung mit der gesetzlichen deutschen Rentenversicherung in einem Urteil 2015 aufgehoben. Als solche wird nunmehr lediglich der sogenannte obligatorische Teil, der gesetzlich festgelegte Mindestbeitrag, behandelt. Die zweite Säule der Altersversorgung, das sogenannte Überobligatorium, gilt inzwischen als private Altersversorgung.
Die Folge: Vom höheren eidgenössischen Brutto-Verdienst bleibt für Grenzgänger weniger netto übrig. Für Empfänger der Schweizer Pension ist das von Vorteil, weil sie nur noch den ausgezahlten Pflichtbeitrag versteuern müssen. Für Berufstätige kann sich das zu versteuernde Einkommen jedoch – je nach Lohn – um mehrere Tausend Euro erhöhen.