Man kann es kurios nennen oder mutig, rückständig oder idealistisch: Bei Migros gibt es bis heute weder Bier und Wein, noch Zigaretten und Zigarren. Die Statuten verbieten es den zehn regionalen Genossenschaften. Weil das Verkaufsverbot endgültig fallen könnte, stellt sich für den Schweizer Milliarden-Konzern die Frage, was schwerer wiegt: der wirtschaftliche Druck oder die Prinzipien des Gründers?
Auf ihn, Gottlieb Duttweiler, geht das Verbot legaler Genussmittel zurück. Von Duttis Erbe ist in Anlehnung an seinen Spitznamen bei der Migros-Eigenart die Rede. Duttweiler folgte bei der Gründung 1925 dem Prinzip: Möglichst viele Waren einkaufen, um diese dann den Kunden günstig anzubieten. Gleichzeitig wollte er die „Volksgesundheit“ fördern und nicht der grassierenden Alkoholsucht Vorschub leisten.

Der Gründer ist fast 60 Jahre tot. In den Statuten der Migros findet sich die Pflicht noch immer, „auf den Verkauf von alkoholischen Getränken und Tabakwaren zu verzichten“. Groß ist daher die Aufregung, seit Schweizer Medien erstmals vom Ansinnen mehrerer Genossenschaftsdelegierter berichtet hatten, an Duttis Erbe zu rütteln.
Alkohol- und Tabakverbot könnte im November gekippt werden
Unternehmenssprecher Marcel Schlatter bestätigt auf Anfrage, dass „der Alkoholverkauf immer wieder diskutiert“ werde und „aktuell verschiedene Delegierte das Thema aufgeworfen haben“. Delegierte vertreten die insgesamt circa zwei Millionen Migros-Genossenschafter. Als mächtiges Gremium, das unter anderem die Konzernverwaltung wählt, über die Geschäftsphilosophie entscheidet oder Statuten ändern kann, sind die mehr als 100 Delegierten zu strengster Geheimhaltung verpflichtet.
Nach SÜDKURIER-Informationen steht die Streichung des Alkohol- und Tabakverbots bei der Delegiertenversammlung Anfang November 2021 zur Abstimmung. Noch ist der Ausgang also offen, wie Schlatter bekräftigt. Aus Delegiertenkreisen sickerte jedoch durch, dass ein zweiter Antrag beide Verbote beibehalten und ein dritter nur vom Tabakverkauf absehen will.
Firmenstruktur von Migros
Hilfsorganisation Blaues Kreuz: Ehemalige Suchtkranke ziehen Migros vor
In den Kommentaren der digitalen Welt reichte die Bandbreite weit. Von der Aufgabe eines Alleinstellungsmerkmals war ebenso die Rede wie von Verständnis oder resignativer Gleichgültigkeit: Irgendwann muss es ja so kommen.
Dass für manche Menschen mehr auf dem Spiel stehe als ein nebensächliches Symbol, erklärt Philipp Hadorn, Präsident der Suchthilfe-Organisation Blaues Kreuz Schweiz. Es gebe „sehr wohl ehemals Suchtkranke, die den Einkauf in der Migros vorziehen, um sich unnötiger Gefährdung zu entziehen“, sagt er.
Hadorn erinnert daran, dass soziale Organisationen Migros-Gutscheine an Unterstützungsbedürftige abgeben, „womit garantiert keine alkoholische Getränke und Raucherwaren gekauft werden können“. Das sei ein wertvolles Instrument der Prävention.
Kundin gegen Alkohol bei Migros: Sucht nicht weiter fördern
So sieht es auch Sandrina Häuptli-Schellhammer aus Berg, einem Ort zwischen Weinfelden und Kreuzlingen, als sie aus der Filiale in der dortigen Hauptstraße kommt. Der Konzern sollte das Erbe bewahren, sagt sie. „Ich fände die Aufhebung der Verbote nicht gut. Gerade beim Alkohol, es gibt genug Suchtkranke, da muss man das nicht weiter fördern.“

Wie in der digitalen Welt ist aber auch in der realen vor der Filiale die Stimmung geteilt. Peter Meier aus Kreuzlingen winkt ab. „Das Verbot steht doch sowieso nur noch auf dem Papier, ehrlich wie zu Zeiten Duttweilers ist das schon lange nicht mehr. Aber wir stammen wohl aus einer anderen Generation.“ Für Markus Stoffer, ebenfalls aus der Konstanzer Nachbarstadt, „entscheidet da wohl einfach der Markt und das Management, auch wenn ich nicht weiß, ob ich für diese Produkte dann zu Migros gehe“.

Tankstellen, Denner, Online: Hier verkauft Migros längst Alkohol
Tatsache ist: Der Konzern verkauft längst alkoholische Getränke und Tabakwaren. Zum Beispiel in den eigenen Tankstellen, kleineren Migrolino-Shops oder über die Filialen des Tochterunternehmens Denner. Das Verbot bezieht sich nur noch auf „Verkaufsstellen, die die Bezeichnung Migros tragen“, steht in den Statuten. Über Denner und andere Partner verkauft Migros auch im eigenen Online-Shop alkoholische Getränke. „Was von unseren Kunden sehr geschätzt wird“, beteuert Mediensprecher Marcel Schlatter.
Wie empfindlich man im Migros-Kosmos aber tatsächlich ist, zeigen die Diskussionen nach dem Neustart des Online-Shops im November 2020. Da reichte es aus, dass dieser seinen Namen von „Le Shop“ zu „Migros Online“ änderte. Das war für viele eine Umgehung des Statuts durch die Hintertür: Was den Namen Migros trägt, sollte keinen Wein, Bier oder gar Hochprozentiges anbieten.
Blaues Kreuz: Den Grundwerten treu bleiben
Für Philipp Hadorn vom Schweizer Blauen Kreuz spreche daher auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht nichts für den finalen Schritt. Verzichtete Migros zumindest in den klassischen Filialen weiter auf alkoholische Getränke und Zigaretten, bliebe der Konzern den „Grundwerten treu und bewahrt sich zudem vor Konkurrenz der eigenen Gruppe“, sagt er.