In Deutschland wird seit Beginn der Corona-Pandemie deutlich mehr getrunken. Das liegt an der Zunahme psychischer Belastungen: Bier, Wein und Schnaps seien als vermeintliche Stresslöser in Krisensituationen stets willkommen, erklärt Peter Raiser von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Doch vielleicht liegt eine Ursache auch in etwas anderem als im Stress. Nämlich in der Kultur.
Denn während den Zigaretten nach Jahrzehnten der quarzenden Geheimagenten und Fernsehkommissaren sukzessive der Garaus gemacht wurde, wird auf Leinwänden und Fernsehbildschirmen weiter gesoffen, als sei nichts dabei. „Tabak wird zwar durchaus noch gezeigt, aber es ist viel weniger geworden“, sagt Kim Otto. „Das liegt daran, dass Rauchen inzwischen weitgehend stigmatisiert ist. Alkohol zu trinken genießt dagegen in der Gesellschaft eine hohe Akzeptanz.“
Der Würzburger Professor für Wirtschaftsjournalismus hat im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums eine Studie zur Darstellung von Drogen und Sucht im deutschen Fernsehen erstellt. Dabei kam heraus: In zwei von drei Serien und in fast jedem Film knallen irgendwann die Korken, und das ist ein Problem.

Denn was auf Leinwänden oder Bildschirmen geschieht, wirkt sich mit Verzögerung aufs echte Leben aus. Filme, sagt Otto, seien eine Sozialisationsinstanz, ganz ähnlich wie etwa Familien oder Lehrer. Was sie als Normalität vorspiegeln, prägt das Bewusstsein insbesondere eines jungen Publikums. So wachsen Millionen Kinder im Glauben auf, das vorexerzierte Bechern sei von Suchtverhalten noch weit entfernt. Ein Irrglaube, der sich seit Anbeginn des Kinos hartnäckig hält.
So untersuchte das britische Medical Journal im Jahr 2013, welche beruflichen Erfolgsaussichten wohl ein Geheimagent hätte, nähme er sich in seinen Trinkgewohnheiten den legendären Kollegen 007 zum Vorbild. Die Antwort war im wahrsten Sinne des Wortes ernüchternd: Nach medizinischer Einschätzung ist James Bond nicht nur alkoholabhängig mit erheblichem Risiko, an Leberzirrhose, Bluthochdruck und Depressionen zu erkranken. Er dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch impotent sein.
In 96 Prozent aller Filme wird getrunken
Im Exzess liegt das Problem. „Selbstverständlich muss es Regisseuren erlaubt sein, die Realität abzubilden“, erklärt Kim Otto: „Nur hat das in Filmen gezeigte Verhalten mit dieser Realität ja gerade nicht viel zu tun. Wenn in fast 96 Prozent aller Filme getrunken wird, geht das über unseren tatsächlichen Alkoholkonsum einfach weit hinaus.“
Dass Wirklichkeiten auf und abseits der Leinwand weit auseinander liegen, sobald Alkohol ins Spiel kommt, liegt an den Erzähltechniken der Filmbranche. Regisseure lieben Motive mit hoher Symbolkraft. Warum James Bond seinen Martini geschüttelt trinkt und nicht gerührt, hat ganze Generationen von Cineasten zu wissenschaftlichen Arbeiten veranlasst (gängige Erklärung: geschüttelt entfaltet sich das Aroma schneller, was für gestresste Agenten von Vorteil ist). Weniger Fantasie bedarf es, um die Funktion des Alkohols in gewöhnlichen Vorabendserien zu interpretieren: Sekt steht für Feierlaune, Wein für feines Ambiente, Bier trinkt das einfache Volk.
Grüner Tee hilft wenig
Weil kaum ein Motiv so eindeutig und zugleich vielfältig einsetzbar ist, will man am Set nicht darauf verzichten. Wozu mit mühsam konstruierten Dialogen kostbare Sendezeit vergeuden, wenn in einer banale Flasche gleich die ganze Geschichte steckt? Ein Kameraschwenk auf den Flachmann in der Jackentasche: Aha, hier hat jemand ein Problem! Kurz darauf die Magnumflasche auf dem Gabentisch: Sieh an, hier hat jemand gerade kein Problem!
Bier und Schnaps aus den Drehbüchern zu streichen und an ihre Stelle grünen Tee zu verordnen, dieses Ansinnen dürfte kaum Erfolg versprechen. So radikal, sagt der Würzburger Studienleiter Kim Otto, müsse man auch gar nicht vorgehen.
Ein Fortschritt sei bereits erzielt, wenn Regisseure ein höheres Bewusstsein für das Problem entwickelten. Wenn sie in manchen Szenen über Alternativen nachdenken, statt stumpf zum altbewährten Ausdrucksmittel zu greifen: Muss es an dieser Stelle wirklich wieder der Alkohol sein? Gibt es nicht Motive, die genauso gut funktionieren?
Führt am Alkohol so gar kein Weg vorbei, ließe er sich zumindest problematisieren. „Es gibt bereits heute vereinzelt Figuren wie die Wiener Tatort-Kommissarin Bibi Fellner“, sagt Otto: „Das ist eine trockene Alkoholikerin, die immer wieder mit Rückfällen zu kämpfen hat. Solche Rollen sind auf jeden Fall hilfreich, wenn es darum geht, ein Bewusstsein für Suchtgefahren zu schärfen.“
Und drittens könnten auch betroffene Künstler selbst durch ihren Umgang mit Suchtkrankheiten viel bewirken. So spricht etwa die Schauspielerin Mimi Fiedler offen über ihre Alkoholsucht und die lebensbedrohlichen Gefahren, die ein Rückfall mit sich bringt.
Zugehört, mehr nicht
Dass sich am Besäufnis auf dem Bildschirm so schnell etwas ändert, mutet allerdings wenig wahrscheinlich an. „Als wir vor drei Jahren unsere Studie publiziert hatten, initiierte das Bundesgesundheitsministerium zwei, drei runde Tische“, erzählt Kim Otto. „Dabei schilderten wir den Programmverantwortlichen von öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern die Lage.“ Man habe interessiert zugehört, mehr nicht.
Den Experten wundert das kaum noch, er kennt das Spiel. Bereits 15 Jahre zuvor habe er eine ähnliche Studie verantwortet – mit ganz ähnlichen Ergebnissen. „Getan hat sich schon damals nichts.“
Und so kommt es, dass in der Corona-Pandemie nicht nur der heimische Konsum von Filmen und Serien zugenommen hat. Sondern damit auch die Bereitschaft, es den Vorbildern auf der Mattscheibe gleichzutun. Zwar, sagt Kim Otto, sei der kurzfristige Anstieg des Alkoholmissbrauchs vor allem den unmittelbaren psychischen Belastungen in dieser Krise geschuldet. Vor allem junge Menschen aber lernen zurzeit in diversen Serien und Filmen, dass Trinken so schlimm kaum sein kann: Zum Sterben hat James Bond ja schlicht keine Zeit.