(Dieses Interview wurde erstmals im Dezember 2020 veröffentlicht.)

Herr Hegerl, wie fühlt sich ein depressiver Mensch unterm Weihnachtsbaum inmitten seiner Familie?

Ganz egal, wo er ist: Ein depressiver Mensch steckt voller Schuldgefühle, ist erschöpft und hoffnungslos. Er befindet sich in einer innerlichen Daueranspannung, so wie vor einer wichtigen Prüfung.

Das heißt, er kann keinerlei Freude empfinden, dass die Familie beisammen ist?

Nein. Er kann Gefühle gar nicht wahrnehmen: Die Menschen fühlen sich wie versteinert. Alles, was passiert, wird zu einem Vorwurf. Das ist unterm Weihnachtsbaum auch nicht besser.

Ulrich Hegerl, 67, Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, hat die Johann Christian Senckenberg ...
Ulrich Hegerl, 67, Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, hat die Johann Christian Senckenberg Distinguished Professorship an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Goethe-Universität Frankfurt inne. Bis 2019 leitete er die Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychosomatik in Leipzig. | Bild: Katrin Lorenz

Die Corona-Kontaktbeschränkungen haben die Isolation befördert, viele werden auch an Weihnachten allein sein und sich einsam fühlen. Kann Einsamkeit eine Depression auslösen?

Eher weniger. Depression ist eine ziemlich eigenständige Erkrankung. Manchmal spielen äußere Faktoren als Auslöser eine Rolle, diese werden aber überschätzt. Obwohl im höheren Alter viele Menschen alleinstehend sind, unter körperlichen Erkrankungen und vielen Verlusterlebnissen leiden, nimmt die Häufigkeit von Depressionen mit höherem Alter sogar eher ab. Entscheidend ist, ob man eine Veranlagung zu Depressionen hat. Wenn die Depression kommt, dann sucht sie sich sozusagen das Negative im jeweiligen Leben. Bei jedem findet sie etwas, vergrößert es und rückt es ins Zentrum, sodass der Betroffene und unerfahrene Ärzte oft zunächst meinen, dies sei die Ursache.

Für Außenstehende ist schwer zu verstehen, was ein depressiv Erkrankter durchmacht. Am Beispiel eines Tages, was fällt ihm besonders schwer?

Nach dem Schlaf und morgens ist die Depression meist am schwersten ausgeprägt. Der Tag hängt wie ein unüberwindbares Unheil über dem Erkrankten. Er ist komplett erschöpft, hat nachts schlecht geschlafen und viel gegrübelt. Nichts macht ihm Freude. Es quälen ihn Gedanken, wie ‚Ich bin ja nur eine Last für andere‘ oder ‚Es hat alles keinen Sinn‘. Er hat das Gefühl, dass er den Tag nie überstehen kann und quält sich von einer Stunde zur nächsten.

In Ihren Studien befragen Sie die Deutschen regelmäßig, was sie über Depressionen wissen. Was ist der weitverbreitetste Irrtum?

95 Prozent glauben, dass Depressionen eine Folge von Überforderung bei der Arbeit, von Konflikten in der Partnerschaft oder körperlichen Erkrankungen sind. Doch das stimmt so nicht. Wenn jemand in die Depression rutscht, wird die Arbeit immer als Überforderung erlebt wie alles im Leben. Sie ist aber in der Regel nicht Ursache der Depression. Sehr schlechte Arbeitsbedingungen können allenfalls bei Menschen mit entsprechender Veranlagung ein Trigger, also ein Auslöser, sein. Es kann einem noch so gut gehen, wenn man die Veranlagung hat, rutscht man meist mehrfach im Leben hinein. Andererseits ertragen Menschen ohne diese Veranlagung schwere Schicksalsschläge, ohne je an einer Depression zu erkranken.

Wo Betroffene Hilfe finden

Gibt es Frühwarnzeichen, dass man in eine Depression rutscht?

Bei vielen sind es Schlafstörungen, oft eine permanente Aufgeregtheit, vermehrtes Grübeln oder ständige Schuldgefühle. Betroffene haben dann den Eindruck, alles falsch gemacht zu haben. Appetitstörungen oft mit Gewichtsverlust zählen auch dazu. Es ist wichtig, bei sich die Frühzeichen zu kennen, damit man rechtzeitig gegensteuern kann, falls erneut eine depressive Krankheitsphase kommt.

Viele glauben in Ihren Umfragen, dass „Schokolade essen“ oder „sich zusammenreißen“ geeignete Mittel gegen Depressionen sind.

Depressionen sind kein persönliches Versagen, wie viele Betroffene denken, sondern Erkrankungen wie andere Erkrankungen auch. Funktionsabläufe im Gehirn sind gestört. Das heißt aber nicht, dass man die Krankheit nicht durch eine Verhaltensänderung beeinflussen kann. Hilfreich ist es oft, wenn man nicht zu früh ins Bett geht und morgens nicht zu lange liegen bleibt, denn langer Schlaf und lange Bettzeiten wirken oft depressionsverstärkend. Auch Bewegung an der frischen Luft tut gut. Das ist aber leichter gesagt als getan. Menschen mit schweren Depressionen schaffen es oft kaum mehr, aufzustehen und sich die Zähne zu putzen.

Sie haben 2020 untersucht, wie sich die Corona-Maßnahmen auf die psychische Gesundheit in Deutschland auswirkte. 74 Prozent der an Depressionen Erkrankten erlebten den Lockdown als sehr viel belastender – gegenüber 59 Prozent in der Allgemeinbevölkerung. Zusätzlich berichtete jeder zweite Betroffene von ausgefallenen Behandlungsterminen.

Hochgerechnet geben mehr als 2 Millionen depressiv Erkrankte an, dass sich ihre medizinische Versorgung durch die Maßnahmen gegen Corona verschlechtert hat. Das ist eine Katastrophe. Stationäre Behandlungen sind ausgefallen, auch ambulante Angebote, und manche waren so verängstigt, dass sie es nicht mehr gewagt haben, zum Arzt oder Psychologischen Psychotherapeuten zu gehen und Termine abgesagt haben. Hier sind ohne Zweifel durch die Maßnahmen großes Leid und vermutlich auch Tod verursacht worden.

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Es gab jedoch vermehrt auch die Angebote von Videosprechstunden. Was können sie bei Depressionen leisten?

Das stimmt. Da haben die Politik und das Gesundheitssystem sehr rasch und gut reagiert und hat es erleichtert, Video- und Telefonsprechstunden anzubieten. Etwa zehn Prozent der depressiv Erkrankten haben angegeben, erstmals solche Videosprechstunden ausprobiert zu haben. Circa 80 Prozent haben diese Angebote als hilfreich erlebt.

Weihnachten ist eine schöne Zeit, gerade in der Familie. Was können Angehörige tun, um einen depressiven Menschen zu stärken?

Wichtig ist, sich über die Erkrankung zu informieren, damit das veränderte Verhalten nicht als böser Wille, Lieblosigkeit oder sich Gehenlassen missverstanden wird. Angehörige sollten wissen, dass sie weder schuld an der Erkrankung noch für die Heilung zuständig sind. Etwas platt formuliert: Depressionen lassen sich genauso wenig wie Diabetes mit Liebe heilen. Lebensrettend ist aber, wenn Angehörige dafür sorgen, dass Erkrankte in professionelle Behandlung kommen.