Ein Kind ohne Zahnspange – das ist in Deutschland mittlerweile ein eher ungewöhnlicher Anblick. Auch an die vernuschelte Aussprache, die vor allem zu Beginn der Behandlung eine Herausforderung für Spangenträger und Zuhörer sein kann, hat man sich gewöhnt. Die Brackets haben sich sogar zum modischen Accessoire der Jugend entwickelt. Aber ist ihr Einsatz wirklich immer notwendig?
Ein deutsches Phänomen
Fragt man Kieferorthopäden, gibt es schon bei den geringsten Befunden einen Behandlungsbedarf. Das scheint aber ein deutsches Phänomen zu sein: In anderen Ländern tritt das Problem der schiefen Zähne offenbar nicht annähernd so häufig auf. Tatsächlich erhalten in Deutschland zwei von drei Kindern eine Zahnspange, das heißt 60 Prozent, und das obwohl Datenerhebungen seit 2001 auf einen Anteil von lediglich gut 40 Prozent an Mädchen und Jungen kommen, die einen gesundheitsbedingten Anspruch auf eine Zahnkorrektur haben. In Dänemark, Schweden und Norwegen trägt nur jedes dritte Kind eine Spange.
„Die Behandlung von Jugendlichen mit kieferorthopädischen Maßnahmen in Deutschland überschreitet mit über 60 Prozent alle internationalen Normwerte“, hat auch der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen festgestellt. Die Berufsverbände der Zahnärzte halten dagegen: Der hohe Anteil sei nicht nur gerechtfertigt. Womöglich liege er sogar zu niedrig! Das jedenfalls legt die „Sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie“ zur „Zahn- und Kieferfehlstellungen bei Kindern“ nahe, in Auftrag gegeben von Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung.
Sie kommt zu einem bemerkenswerten Ergebnis. Bei sage und schreibe 97,5 Prozent der Kinder, heißt es darin, könne „aus medizinischen Gründen eine kieferorthopädische Behandlung grundsätzlich angezeigt sein“. Heißt es also bald: Zahnspange für alle?
Mehr ästhetischer als medizinischer Nutzen?
Vorerst wohl nicht. Denn Kritik an den Ergebnissen dieser Untersuchung von acht- und neunjährigen Kindern regt sich in der Branche selbst. Unter anderem, weil das Hauptbehandlungsalter bei elf bis 15 Jahren liegt. Einer der Kritiker ist der Mannheimer Kieferorthopäde Henning Madsen. „Der Hauptnutzen von Zahnspangen ist eine ästhetische Verbesserung“, sagt er gegenüber dem SÜDKURIER. Ein Anspruch auf eine Behandlung werde aber durchgängig als Notwendigkeit fehlinterpretiert, meint Madsen: Bei lediglich jedem zehnten Kind eines Jahrgangs seien die Korrekturen tatsächlich von medizinischem Nutzen.
Das liest sich in der Studie völlig anders. Dort heißt es unter anderem sogar, Zahn- und Kieferfehlstellungen gefährdeten die Mundgesundheit und die Funktionsfähigkeit des Gebisses. Teilnehmer der Studie, bei denen kein kieferorthopädischer Versorgungsbedarf bestand, seien häufiger kariesfrei gewesen. „Diese Assoziationen geben Hinweise auf den medizinisch-prophylaktischen Charakter einer kieferorthopädischen Behandlung“, heißt es in dem Bericht. Kinder mit schiefen Zähnen sollen demnach also deutlich anfälliger für Karies sein.
Verbraucherzentrale sieht keine Belege
„Die Kieferorthopädie ist und bleibt daher essenzieller Bestandteil einer präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, die seit vielen Jahrzehnten ebenso konsequent wie erfolgreich von der Zahnärzteschaft umgesetzt wird“, betont Wolfgang Eßer, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. Dieser „vorbildliche Versorgungsansatz“ führe zu „nachhaltig rückläufigen Morbiditäten bei der Mund- und Allgemeingesundheit der Bevölkerung, zu weniger Folgeerkrankungen und letztendlich auch zu Kostenersparnis im Gesundheitswesen“, meint er.
Verbraucherzentralen stellen diese These jedoch infrage. „Bisher existieren keine verlässlichen wissenschaftlichen Belege, dass Zahnspangen zu einer verbesserten Zahngesundheit führen“, hält die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen fest. „Weil auch nicht belegt ist, dass Zahnfehlstellungen das spätere Risiko für Karies, Parodontitis oder Kieferschmerzen erhöhen.“
Es gebe auch keine Antwort darauf, ob die Behebung von Fehlstellungen eine wirksame Voraussetzung für den Erhalt der Zähne ist. Kieferorthopäde Madsen geht sogar noch weiter. Er vermutet, dass die kieferorthopädische Behandlung ein erhöhtes Karies-Risiko mit sich bringt: Die Reinigung festsitzender Spangen sei nämlich oft nicht einfach.
Kritik an langer Behandlungsdauer
Der Mannheimer Zahnarzt kritisiert aber nicht nur die große Zahl an Zahnspangen, die in Deutschland verschrieben werden, sondern auch die lange Behandlungszeit von rund 42 Monaten. Andere Länder schaffen die Korrekturen in deutlich kürzerer Zeit. So tragen Kinder und Jugendliche in Österreich ihre Spangen im Schnitt lediglich 26 Monate lang.
Dort bekommen Kieferorthopäden aber auch nur eine Pauschale für die Behandlung, egal wie lange sie dauert. Für eine Zahnspange in Deutschland trägt die gesetzliche Krankenkasse rund 3100 Euro der Kosten. Doch 80 Prozent der Eltern zahlen für die Spangen ihrer Kinder im Schnitt noch rund 1000 Euro privat dazu – für angeblich bessere Modelle.
Abnehmbare Zahnspangen sind ein Goldesel
Aber welche Zahnspangen sind am effektivsten? „In zahlreichen Studien konnte nachgewiesen werden, dass Behandlungen mit festsitzenden Zahnspangen kürzer dauern, bessere Ergebnisse bringen und auch noch weniger kosten“, schreibt Madsen auf der Homepage seiner Praxis. „Vor diesem Hintergrund ist es schon fast ein Rätsel, warum abnehmbare Spangen überhaupt noch in großem Umfang verwendet werden.“
Der einzige Grund, den Madsen sich erklären kann: Für deutsche Kieferorthopäden seien die ohne viel Mühe und Wissen einsetzbaren abnehmbaren Zahnspangen der Goldesel. „Mit nichts anderem in der gesamten Zahnmedizin lässt sich in kurzer Zeit so viel Geld verdienen wie mit dem Einsatz abnehmbarer kieferorthopädischer Apparaturen.“
Madsen steht mit seiner Meinung nicht alleine da. Auch der Kieferorthopäde Alexander Spassov übt Kritik an der „Profitgier“ mancher Kollegen. Den meisten Kindern und Jugendlichen in seiner Praxis in Greifswald passt er Zahnspangen auf Kassenkosten an. „Man verdient auch so gut“, sagt er gegenüber dem SÜDKURIER. In einer Publikation des Instituts der Deutschen Zahnärzte sei nachzulesen, dass ein Kieferorthopäde einen Arbeitsaufwand von fünf Stunden und 23 Minuten pro Spangen-Behandlung habe. Entsprechend der Vergütung durch die Kassen komme man dann auf einen Stundenlohn von 1000 Euro brutto, rechnet Spassov vor. Er sieht in teuren Zahnspangen keine medizinischen Vorteile. Das Kassenmodell reiche seiner Ansicht nach völlig aus.
Berufsverband weist Vorwürfe zurück
„Die Frage, welche Zahn- und Kieferfehlstellungen zulasten der Solidargemeinschaft behandelt werden sollen, ist im Sozialgesetzbuch V genau festgelegt“, erklärt Thomas Miersch vom Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden. Aber: „Nicht jede Fehlstellung, die aus fachlichen Gründen behandelt werden sollte, wird von den Krankenkassen auch bezahlt“, sagt er.
Den Vorwurf, Kieferorthopäden würden unnötige Behandlungen als Geschäftsmodell betreiben, weist der Fachzahnarzt für Kieferorthopädie vehement zurück. „Versicherten steht es jederzeit frei, sich für eine zuzahlungsfreie Behandlung zu entscheiden“, lässt die Interessenvertretung vom Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden wissen. Die Kieferorthopädie stellt mit etwa 3700 Fachzahnärzten neben der Oralchirurgie die zahlenmäßig größte fachzahnärztliche Disziplin in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde dar.
Er erhalte mehrere Tausend Nachfragen zu Zahnspangen im Jahr, sagt der unabhängige Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze. Es würden zahlreiche Beschwerden von betroffenen Eltern eingehen, „denen bei einer kieferorthopädischen Behandlung ihres Kindes private Zusatzleistungen nicht nur angeboten, sondern teilweise sogar aggressiv beworben wurden“. Oftmals handele es sich dabei um Leistungen, „die für eine medizinische Behandlung nicht zwingend notwendig sind“.
Eltern sollten gezielt nachfragen
Es sei verständlich, dass Eltern im besten Interesse ihrer Kinder handeln möchten. Erst recht, wenn die Kinder bei der Besprechung der Behandlung daneben sitzen. „Doch die Vielzahl an Angeboten und die teils aufdringliche Werbung können zu Verunsicherung und unnötigen finanziellen Belastungen führen“, hat der Patientenbeauftragte aus Gesprächen erfahren.
Er rate allen Eltern, bei jedem Angebot gezielt nachzufragen: „Warum reichen die Kassenleistungen bei meinem Kind nicht aus?“ oder „Warum halten Sie diese Zusatzleistung für nötig?“ Diese Fragen, sagt Schwartze, könnten helfen, den Nutzen der vorgeschlagenen Zusatzleistungen besser zu verstehen: „Es ist wichtig, dass Eltern sich nicht unter Druck setzen lassen und alle Fragen ausführlich abklären können.“ Gegebenenfalls könne es sinnvoll sein, sich eine Zweitmeinung eines weiteren Kieferorthopäden einzuholen.