Herr Dr. Blume, sie sind der Erste in diesem Amt – der erste Beauftragte des Landes gegen Antisemitismus. Warum benötigen wir dieses Amt?
Leider brauchen wir dieses Amt, weil der antisemitische Hass digital eskaliert und zu Gewalt führt. Und ich will alles dafür tun, damit wir dieses Amt eines Tages nicht mehr nötig haben.
Wie kamen Sie zu Ihrem Amt?
Die jüdischen Gemeinden haben mich bei Ministerpräsident Kretschmann vorgeschlagen. Ich fragte sie warum, und sie sagten: Du bist Christ, mit einer Muslimin verheiratet und Wissenschaftler – vielleicht hört man Dir zu. Das habe ich als Auftrag aufgenommen.
Baden-Württemberg ist nicht Halle, wo es einen Anschlag gegen eine Synagoge gab.
Wir sehen, dass sich viele durch das Internet radikalisieren. Im Land nimmt nicht die Zahl der Antisemiten zu. Doch radikalisieren sich Menschen, die antisemitisch eingestellt sind, in ihren digitalen Blasen. Das passiert leider weltweit.
Wir leben an der Grenze zur Schweiz. Wie sieht es dort aus?
Zurzeit erhalte ich massiv Meldungen von dort. Es gibt zum Beispiel im Kanton Appenzell-Ausserrhoden den Sektengründer Ivo Sasek, einen Rechtsesoteriker. In einem aktuellen Flugblatt behaupten seine Medien, dass Juden hinter dem Coronavirus steckten und das Virus als Biowaffe einsetzen. Solche Behauptungen sind falsch und gefährlich. Hier wünsche ich mir einen Austausch mit den Schweizer Kollegen zur gemeinsamen Bekämpfung des Antisemitismus.
Diese Erklärung ist offensichtlicher Unsinn. Wie kommt so etwas zustande?
Derart weit hergeholte Theorien funktionieren nicht rational, sondern wie eine umgestülpte Religion. Antisemiten glauben, dass böse Mächte die Welt regieren. Dann heißt es: Juden und Israel sind fast allmächtig. Und es endet damit, dass alle Medien, alle Wissenschaftler, alle Parteien angeblich davon gesteuert würden. Wer dorthin abrutscht, glaubt am Ende tatsächlich, dass Juden auch hinter einem Virus aus Wuhan in China stecken.

Wie intensiv beobachten sie die elektronischen Medien?
Der Antisemitismus war nie verschwunden. Er existierte schon lange vor der Erfindung des Netzes. Nur können sich dessen Träger und Propagandisten jetzt leichter vernetzen, organisieren und gegenseitig bestärken. Wer rassistisch unterwegs ist, erhält die einschlägigen Infos schnell automatisch zugesandt.
Wo sehen Sie judenfeindliche Einstellung von Einwanderern?
Das ist ein riesiges Problem. Ich wurde auf das Thema aufmerksam, als ich für das Land im Irak ein Sonderkontingent von Jesidinnen leitete. Damals wurde mir bewusst, dass Menschen Juden hassen können, auch wenn alle vertrieben wurden und es keine Synagogen mehr im Lande gibt. Nun werfen sich Türken, Kurden und Araber gegenseitig vor, sie seien Teil einer jüdischen Weltverschwörung. Viele Migranten informieren sich über einschlägige Medien, auch wenn sie bei uns sind. Der Iran exportiert antisemitische Vernichtungsfantasien in die ganze, digitale Welt.
Was können Sie dagegen tun?
Für den Landtag habe ich 76 Handlungsempfehlungen zusammengestellt. Diesen Antisemitismus-Bericht wurde sehr gut angenommen, jetzt geht es um die Umsetzung. Es wurden zum Beispiel schon Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften etabliert. Dann die Öffentlichkeit, auf die ich einwirke. Ich bin sehr viel unterwegs im Land, heute zum Beispiel in Konstanz.
Sie sprechen vom Landtag. Dort sitzen auch die AfD und ein Wolfgang Gedeon ...
... mit denen hatte ich bereits zu tun. Ich kenne auch deren Schriften. Die AfD-Fraktion hat mich sogar eingeladen. Aber eines ist klar: Die vier Abgeordneten, die sich beim Einbringen des Antisemitismusberichts im Parlament daneben benommen haben, werde ich nicht zum Gespräch treffen. Irgendwo gibt es dann Grenzen. Die AfD hat ihr Verhältnis zum Judenhass noch lange nicht geklärt.
Wer waren die vier Abgeordneten?
Wolfgang Gedeon, Christina Baum, Heinrich Fiechtner, Stefan Räpple.
In der AfD sitzen Politiker wie Jörg Meuthen oder Alice Weidel, die mit Antisemitismus nichts zu tun haben, wie sie sagen. Nehmen Sie ihnen das ab?
Nicht jeder in dieser Partei ist antisemitisch. Doch gibt es einen hohen Anteil an rassistischen Überzeugungen. Genau das dürfen wir nicht durchgehen lassen. Den Antisemitismus bekämpfen wir nicht nur den Juden zuliebe, sondern für die gesamte, demokratische Gesellschaft.

Warum das?
Es geht nicht nur um Judenhass, sondern das Verschmelzen dieses Hasses mit einem Bündel von Verschwörungsmythen. Ein Antisemit zielt auch auf die Bundeskanzlerin, die Sozialdemokraten, die Journalisten – diese Gruppen sind auch Teil der jüdischen Verschwörung, meint der Antisemit. Er wird es niemals bei dieser kleinen Minderheit belassen. Jeder, der das gesellschaftliche Leben formt, ist der Verschwörung verdächtig. Beispielsweise sind es angeblich Ärzte, die gegen die Bevölkerung arbeiten und durch Impfungen die Kinder vergiften.
Das ist wohl ein Witz?
Leider nicht. Erst kürzlich hat mich ein Arzt angerufen. Er berichtet von einer Mutter, die ihn aufforderte, ihr Kind nicht zu vergiften. Der Arzt hatte mit der jüdischen Gemeinde nichts zu tun. Jean-Paul Sartre sagte zu Recht: „Wenn Antisemiten keine Juden haben, erfinden sie sich welche.“ Dieser Hass auf die Juden wird niemals satt.
Darf man politische Vorgänge in Israel kritisieren?
Aber selbstverständlich. Und es gilt das 3-D-Kriterium: Jeden Staat darf man kritisieren, wenn man nicht dämonisiert, nicht delegitimiert und keine doppelten Standards anlegt.
Können Sie diese Faustformel erläutern?
Ja, und zwar am Beispiel von Pakistan. Pakistan ist fast zur gleichen Zeit wie Israel entstanden. Und wie in Israel wurden auch hier Menschen vertrieben, in diesem Fall Hindus und Sikhs. Es gibt bis heute den Konflikt um Kaschmir, in dem sich drei Atommächte gegenüberstehen. Dennoch käme niemand auf die Idee, Pakistan zu boykottieren oder zu behaupten, dass Pakistan den Weltfrieden gefährdet oder zu verlangen, dass es von der Landkarte verschwindet. Alles, was man an Pakistan kritisieren kann, kann man auch an Israel kritisieren. Doch es gibt keine „Pakistankritik“, während bestimmte Kreise permanent über das viel kleinere Israel herziehen.

Wenn wir das „Anti“ weglassen, bleibt der Semitismus. Was ist das? Wer ist das?
Sem ist ein Sohn von Noah, nach ihm ist der Semitismus benannt. Sem ist aber nicht der Ahnherr einer Rasse, sondern einer religiösen Tradition. Juden sehen bis heute ganz unterschiedlich aus, es gibt hellhäutige sowie dunkelhäutige Juden. Davon kann man sich bei einem Besuch in Israel leicht überzeugen.
Schön und recht, aber wo liegt seine Bedeutung?
Sem ist nach jüdischer Überlieferung der erste, der in Alphabet-Schrift gelehrt hat. Damit begründete Sem das Judentum als Religion des Buches und der Schrift. Es war seitdem und bis heute eine Bildungsreligion. Semitismus bedeutet Alphabetisierung und Freude an Bildung.
Wäre das die Erklärung für die Überlegenheit oder gefühlte Überlegenheit mancher jüdischer Wissenschaftler?
Ja. Juden stellen etwa 0,2 Prozent der Menschheit – und erlangten bisher 20 Prozent aller Nobelpreise. Denn seit Jahrtausenden lernten jüdische Kinder lesen und schreiben. Auch der Zimmermannssohn Jesus, der mit 12 Jahren mit Schriftgelehrten im Tempel diskutiert. Nach der Vertreibung durch die Römer wuchsen fast alle Juden mehrsprachig auf. Die Thora ist hebräisch, dazu kam die Sprache der Umgebung, zum Beispiel Deutsch, Englisch oder eine slawische Sprache. Das formte den Geist. Das Judentum war die erste Buch- und Bildungsreligion – und darauf reagierten Menschen seit der Antike mit Neid und Hass.