„Es war der Schock meines Lebens und zwölf Jahre die Hölle – ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal passieren würde“, sagt Monika Seyer an einem langen Tisch mit Mandarinen, Schokolade und Wasserflaschen. Ihr gegenüber sitzt Sabine Mitter: „Als ich das erste Mal hier war, habe ich nur geheult“.

Die beiden Mütter heißen nicht wirklich so, ihre richtigen Namen sind der Redaktion bekannt, sie wollen aber – wie weitere betroffene Eltern – lieber anonym bleiben. Zu groß ist die Sorge, erkannt und vorverurteilt zu werden. Denn ihre Kinder sind oder waren drogenabhängig, ihre Erlebnisse machen betroffen.

„Reinster Psychoterror“

Seit 42 Jahren treffen sich im Radolfzeller Haus der Diakonie einmal pro Monat Eltern und Großeltern von suchtkranken Jugendlichen und jungen Erwachsenen, um sich auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. An diesem Abend sind sechs Mütter und zwei Väter gekommen. „Es kostet viel Überwindung, hierher zu kommen – aber es hilft, sagt Zita Wirsch.

Die Worblingerin leitet seit zwölf Jahren den „Elternkreis drogengefährdeter und -abhängiger Jugendlicher Singen-Radolfzell-Konstanz“ – ein Tabuthema in der Öffentlichkeit und für betroffene Angehörige stets eine Extremsituation, über die viele kaum zu reden wagen. „Hier wirst du verstanden und stößt nicht auf Ablehnung, weil die anderen das Gleiche durchmachen“, sagt Mitter. Wer kein drogenabhängiges Kind habe, könne sich gar nicht vorstellen, was das heiße. „Es war der reinste Psychoterror“, sagen Manfred und Bettina Hauser.

Liquid Ecstasy, Pillen und Pilze

Ihr Sohn sei 15 gewesen, als er begonnen habe, Cannabis zu rauchen. Dann folgten Liquid Ecstasy, Schmerzmittel, chemisches Marihuana und Pilze. „Er ist morgens aus dem Haus, aber selten zur Schule“, erzählt das Paar. Fortan habe ihr Sohn unter Wahnvorstellungen und Psychosen gelitten, war manches Mal gar nicht mehr ansprechbar. „Eines Tages mussten wir ihn aus dem Haus schmeißen, es ging nicht mehr anders, die nerven lagen blank“, schildert Familie Hauser. Es folgte ein 14-tägiger Entzug im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau.

Doch auch dort musste der junge Mann gehen, weil er weiter heimlich Drogen konsumierte. Nach Tagen der Obdachlosigkeit verschafften die Eltern ihm eine eigene Wohnung. Heute konsumiert ihr Sohn zwar weiterhin moderat, geht aber einer geregelten Arbeit nach und hat sein Leben in den Griff bekommen. „Die Angst bleibt, dass etwas passieren könnte, das ihn aus der Bahn wirft und rückfällig macht“, sagen sie. Diese große Sorge teilen alle anwesenden Eltern.

Neugeborene müssen durch kalten Entzug

Bei Sabine Mitters erstem Besuch im Elternkreis vergoss sie viele Tränen, da ihre Tochter mit 17 Jahren heroinabhängig wurde. Als diese selbst Kinder auf die Welt brachte, mussten die Neugeborenen jeweils die ersten sechs Wochen einen kalten Drogenentzug überstehen. „Das war hart für mich, sehr hart. Aber heute geht es meinen Enkelkindern gut“, sagt die Radolfzellerin.

Auch ihre Tochter habe sich gut entwickelt, befindet sich seit Jahren in einem Methadon-Substitutions-Programm. Das Risiko, dass das Jugendamt ihr ihre Kinder abnehmen könnte, habe ihr geholfen, sich von der Drogensucht zu befreien. „Sie hat gelernt, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, macht gerade eine zweite Ausbildung und schafft das toll“, sagt Mitter.

Beschaffungskriminalität

„Wie tief muss ein Mensch fallen, wie groß der Leidensdruck sein, damit er oder sie etwas verändern möchte im Leben?“, fragt die eingangs erwähnte Monika Seyer. Ab dem Alter von 14 war ihre Tochter jahrelang heroinabhängig. Die Sucht nach Rauschgift habe ihr Kind und sein Gehirn verändert, sein Verhalten und seine Reaktionen. „Plötzlich verschwindet Geld, der Schmuck. Am Anfang habe ich geglaubt, ich hätte es bloß verlegt“, sagt sie.

Oft habe Seyer gedacht, sie sei im falschen Film. „Aber es war mein Leben“. Zu Beginn der Sucht sei sie nachts durch die Gegend gefahren, um ihre Tochter zu suchen. Irgendwann werde auch die Beschaffungskriminalität für die teuren Drogen ein Thema – von Prostitution bis hin zu Überfällen. „Dann steht dein Kind plötzlich vor einem Richter und du fragst dich, wohin führt dieser Teufelskreis noch?“

Alle Gesellschaftsschichten betroffen

Seyers Tochter habe so viele Entzüge durchgemacht. „Mama, die Droge ist so gut, so geil“, habe ihr ihre Tochter manchmal gesagt. Danach folgte der völlige Absturz und Zusammenbruch sowie der unbedingte Wille, dieses künstliche Glücksgefühl wieder zu erreichen. „Es zählt nur das nächste High – bis zur Verwahrlosung“, sagt Seyer.

Viele Menschen würden glauben, in ihrer Familie könne es nicht passieren, dass ein Kind süchtig nach Rauschgift werde. Aber die Wahrheit sei, dass Drogensucht alle Gesellschaftsschichten betreffe – vom studierten Anwalt bis zum einfachen Arbeiter. So gab es auch einen jungen Banker und einen Koch im Elternkreis, die abhängig von Kokain und Marihuana waren, weil sie glaubten, nur so den beruflichen Stress ertragen zu können.

Ratschlag: Das eigene Kind vor die Tür setzen

„Die Sucht brechen, könnten Süchtige nur selbst“, ist Seyer überzeugt. Manche würden es ohne Hilfe schaffen, andere nur mit. „Ein Fehler ist jedenfalls die falsche Unterstützung der sorgenden Eltern“, sagt Seyer.

Der erste Ratschlag im Elternkreis lautet, drogenabhängigen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kein Geld zu geben, keine Rechnungen zu bezahlen und – wenn das Zusammenleben gar nicht mehr geht – aus der elterlichen Wohnung zu werfen. „Aber bis man das schafft, sein eigenes Kind vor die Tür zu setzen und sich zu distanzieren, braucht man die Unterstützung der Gruppe“, sagt eine weitere Mutter, Miriam Beiler.

Was die Heilung beschleunigt

Als ihre drogenabhängige Tochter im Alter von 18 Jahren schließlich ausziehen musste, habe diese in einem sozialen Netzwerk gepostet, dass sie krank sei und ob ihr jemand eine Suppe bringen könne. „Ich habe das gelesen und es war sehr hart, ihr nicht zu helfen und zu sagen, du kannst nicht mehr Zuhause wohnen“, sagt Beiler. Schließlich sei man als Mutter oder Vater ja gewillt, für sein Kind alles zu tun.

Heute arbeite die Tochter an ihrem Masterabschluss und bei einem renommierten Konzern. „Wir haben heute ein gutes Verhältnis, sie kommt gerne heim und sagt, ich sei die Letzte, die an irgendetwas Schuld sei“ so Beiler. Sich vom eigenen Kind zu distanzieren falle furchtbar schwer, beschleunige aber die Heilung. „Das ist die Erkenntnis“.

Auch Seyers Tochter steht inzwischen mit beiden Beinen fest im Leben, ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. „Erst jetzt habe ich von meiner Tochter wieder gehört: ‚Du hast alles richtig gemacht, Mama. Es war nicht deine Schuld‘.“

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