Von einem Minenfeld war die Rede und von dünnem Eis – der neu aufgerollte Inzest-Prozess am Konstanzer Landgericht stand vor allem unter dem Vorzeichen deutlich eingeschränkter Beweismittel, nachdem das erste Urteil wegen eines Verfahrensfehlers durch die Revision gefallen war. Nun hat die Jugendkammer aber erneut entschieden: Mit vier Jahren und sechs Monaten bleibt das Strafmaß identisch.

Verteidiger Sandro Durante hatte einen Freispruch für seinen Mandanten gefordert, weil er Widersprüche in den Zeugenaussagen sieht: „Einmal hat die Zeugin gesagt, ihre Schwester sei ursprünglich mit nach Konstanz gekommen, ein anderes mal nicht“, erklärt der Anwalt eines seiner Beispiele gegenüber dem SÜDKURIER. Die Plädoyers hatten mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte des Opfers unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. Bei der erwähnten Zeugin handelt es sich um das Opfer.

Vier Monate festgehalten und gequält

Das Gericht sieht die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft jedenfalls als erwiesen an: Fünfmal hat der heute 22-Jährige demnach seine zwei Jahre jüngere Schwester vergewaltigt, zehnmal gefährlich und 40 mal leicht verletzt, während er sie über vier Monate in seiner Konstanzer WG festhielt.

„Die Kammer hat es sich natürlich nicht leicht gemacht“, beginnt der Vorsitzende Richter Arno Hornstein seine mündliche Urteilsbegründung, es sei eine große geistige Herausforderung gewesen, bei den zwar bekannten, aber nicht verwertbaren Hinweisen so zu tun, als gäbe es sie nicht.

Und, auch das stellt er klar: „Es ist nicht die Aufgabe der Kammer gewesen, ihn mit aller Gewalt zu verurteilen.“ Vielen ungeklärten Rechtsfragen sei man hier begegnet. Dazu gehört gewiss die Frage, wie weitreichend eine Zeugenbelehrung gehen muss, wenn die Zeugin der deutschen Sprache noch nicht ausreichend mächtig ist. Das Verfahren hatte sich immer wieder um dieses Problem gedreht.

Deutliche Worte an die Verteidigung

An den Verteidiger richtet Hornstein deutliche Worte. Es möge zwar dessen Aufgabe sein, Zweifel zu säen. „Allerdings halte ich es für fragwürdig, hier eine Zeugin zu diskreditieren“, sagt er. Gemeint ist Durantes Befragung einer Polizeibeamtin, die am ersten Verhandlungstag ausgesagt hatte. Er beneide den Verteidiger aber auch nicht um seine Stellung in einem solchen Prozess, sagte Hornstein.

Viele Beweismittel durften nicht verwertet werden

Trotz der Einschränkungen, so fährt er fort, seien die Beweismittel von guter Qualität. Die Aussagen der Richterin, die das Opfer vor dem ersten Verfahren vernommen hatte, seien natürlich verwertbar – anders als die Videoaufzeichnung der Vernehmung selbst, die zwar gezeigt worden war, aber nicht verwendet werden durfte. „Ihre Aussagen waren so gut, dass man das Leid des Opfers fast spüren konnte, obwohl nur davon erzählt wurde“, so Hornstein.

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Außerdem sehe die Kammer keinerlei Motive für das Opfer, das inszeniert zu haben. Eine so detailreiche Lüge sei kaum möglich. Während Hornstein redet, stützt der Verurteilte seinen Kopf auf die rechte Faust, guckt ihn an, wackelt mit seinem Fuß auf und ab.

„Man kann an allem und jedem zweifeln“, sagt der Richter schließlich. In einem Strafverfahren aber nur, wenn es Anhaltspunkte dafür gebe. „Wenn es die nicht gibt, können die Zweifel beiseite geschoben werden. In diesem Fall gibt es keine Grundlage für Zweifel.“

Kein Grund für eine mildere Strafe

Als Beispiel nennt Hornstein die Verbrennungen am Fuß des Opfers, die der Bruder ihr mit einem erhitzten Messer zugefügt haben soll. Durante hatte eingewendet, diese hätten auch etwa durch verschüttetes Teewasser verursacht worden sein können.

Zwar durften die Fotoaufnahmen aus der körperlichen Untersuchung des Opfers nicht vor Gericht verwendet werden – „das macht es vielleicht schwieriger“, so Hornstein – aber es gab mehrere Augenzeugenberichte über diese Verletzungen. Und die rechtsmedizinische Gutachterin habe die Unterschiede zwischen beiden Hergängen gut erklärt. „Das lässt keine Zweifel an den tatsächlichen Verletzungen zu.“

Für eine mildere Strafe sieht die Kammer keinen Grund. „Die Vorgehensweise war äußerst massiv“, sagt der Vorsitzende Richter. „Ob er traumatisiert ist, müssen wir hier nicht entscheiden, das machen andere“, sagt er mit Blick auf die Fluchtgeschichte des 22-Jährigen.

Urteil auf Nummer sicher?

Das Urteil lässt sich auch interpretieren als Nummer sicher, weitere Verfahrensfehler sollten hier unbedingt vermieden werden. Wohl deshalb wurde auch wieder nach Jugendstrafrecht geurteilt, bei Heranwachsenden zwischen 18 und 20 Jahren zwar üblich, je nach Reife zum Tatzeitpunkt kann ein Gericht das aber auch anders einschätzen.

Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Verteidiger Durante kündigte gegenüber dem SÜDKURIER an, erneut Revision anzumelden.