Zumindest eine Entscheidung wurde am Konstanzer Landgericht heute schon vor der Urteilsverkündung gefällt. Die Zeugenaussagen der Geschädigten dürfen nicht verwendet werden.

Es geht um den als Inzest-Prozess bundesweit bekannt gewordenen Fall, bei dem ein damals 20-Jähriger seine zwei Jahre jüngere Schwester über vier Monate hinweg festgehalten, gequält und vergewaltigt haben soll. Weil das mutmaßliche Opfer die eigene Zeugenaussage noch vor der Hauptverhandlung zurückzog, Teile davon aber in das erstinstanzliche Urteil einflossen, muss das Gericht neu verhandeln.

Mitbewohnerin: „Er hat keinen Respekt vor Frauen“

An diesem zweiten und letzten Prozesstag vor den Plädoyers geht es viel um technische Fragen: Welche Aussagen, welche Fotos dürfen in die Beweisaufnahme einfließen? Er endet aber schließlich mit einer Frage von gesellschaftspolitischer Relevanz.

Zuerst aber sagen nacheinander die beiden früheren Mitbewohnerinnen des Angeklagten aus – nicht viel Neues, das meiste war schon am ersten Verhandlungstag zur Sprache gekommen: dass sie die Schwester nur zweimal für wenige Sekunden in der Wohnung wahrgenommen haben; dass sie nichts gehört, aber mal einen blutigen Lappen gefunden haben; dass der Angeklagte vermutlich keinen Respekt vor Frauen hat.

Als Beispiel für letztere Aussage erzählt eine der früheren Mitbewohnerinnen, wie er ungefragt ihr Handy weggenommen habe, während sie gerade chatte, und einfach ein Foto von sich machte. „Da habe ich mich gefragt: Hätte er das auch bei einem Mann so gemacht?“, so die Zeugin.

Wurde die Zeugin ausreichend belehrt?

Dann sagt die Richterin aus, die die betroffene Schwester nach der Anklage mit Videoaufzeichnung vernommen hatte – dies ist insofern spannend, als es hier darum geht, ob die damals getätigten Aussagen verwendet werden dürfen oder nicht.

Denn die Richterin hat die junge Frau zwar aufgeklärt, dass die Aufnahmen vor Gericht verwendet werden können. Die damals gerade 18-Jährige war aber erst kurz zuvor über die Türkei aus Syrien geflüchtet, sprach also kein Deutsch, die ganze Vernehmung musste übersetzt werden – und es ist zweifelhaft, ob sie sich also der Tragweite ihrer Zustimmung klar war.

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„Ein Minenfeld beim BGH“

„Ich habe sie bei der Belehrung nicht weiter nachgefragt, weil ich anhand ihrer Antworten schon den Eindruck hatte, dass sie weiß, was ein Gerichtsverfahren ist“, sagt die Richterin aus. Es wird hier also auch verhandelt, wie weit eine Belehrung im Zweifel gehen muss.

Der Vorsitzende Richter Arno Hornstein und seine Kammer entscheiden an diesem Tag: Sie war in diesem Fall nicht ausreichend. Keine der Aussagen darf also verwendet werden. Das gilt im weiteren Verlauf auch für die Bilder, die bei der medizinischen Untersuchung angefertigt worden waren.

Zwar hatte die Rechtsmedizinerin das mutmaßliche Opfer über ihr Verweigerungsrecht aufgeklärt, nicht aber Staatsanwaltschaft oder Gericht. Und das sei, so sagt es Richter Hornstein, „ein Minenfeld beim BGH“, dem Bundesgerichtshof also, das sei dann vielleicht nicht gerichtsfest.

Einspruch der Staatsanwaltschaft ändert erst einmal nichts

Die Medizinerin darf also nur anhand der von Augenzeugen geschilderten Symptome der vorgeworfenen Körperverletzungen sprechen, darf nicht ihre eigenen Untersuchungsergebnisse einbeziehen. Das klingt dann ungefähr so: „Wenn jemand mit einem Kabel geschlagen wird, dann führt das wahrscheinlich zu länglichen Hämatomen. Deren Ausprägung hängt aber sehr von der Krafteinwirkung ab.“

Die Staatsanwaltschaft widerspricht der Entscheidung der Kammer, all diese Beweise nicht zuzulassen. Sie hält die Belehrungen der Zeugin für ausreichend, auch die Dolmetscherin der Vernehmung sei nochmals kontaktiert worden und habe bestätigt, dass die Zeugin das verstanden habe. Der Einspruch ändert aber erst einmal nichts.

Fluchtgeschichte und frühe Verantwortung

Schließlich sagt noch eine Mitarbeiterin des Jugendamtes aus, sie kennt den Angeklagten schon seit 2021, kennt auch seine Vorgeschichte gut: Als der Vater im syrischen Bürgerkrieg ein Bein verliert, flieht die Mutter mit den jüngeren Geschwistern in die Türkei. Der Angeklagte ist damals gerade zehn Jahre alt, bleibt mit dem invaliden Vater zurück und muss sich alleine um ihn kümmern.

Als der Vater wieder reisefähig ist, kommen die beiden in die Türkei nach. Der Sohn aber bleibt nicht bei der Familie, sondern muss gleich fort und Geld verdienen, um sie zu versorgen. Er kommt bereits 2015 nach Deutschland, der Rest der Familie erst 2021.

Soll nach Jugendstrafrecht geurteilt werden oder nicht?

Eigentlich habe der Sohn in der Jugendhilfe sehr gut geübt, nicht negativ aufzufallen, sagt die Jugendamtsmitarbeiterin. Er habe zwar durchaus eine fordernde Haltung – aber alles im Rahmen. Sie spricht sich dafür aus, Jugendstrafrecht anzuwenden. Altersmäßig war der Angeklagte zum Tatzeitpunkt kurz vor der vollen Strafmündigkeit.

Dabei wägt sie zwei Standpunkte ab: „Er musste sehr früh Verantwortung übernehmen – da könnte man sagen, dann hat er das ja früh gelernt. Andererseits kann genau das auch die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen.“

Eine Frage an alle

Dann stellt sie aber, so sagt sie es selbst, noch eine Frage an alle: „Was macht man mit einem inzwischen jungen Mann, der aufgrund seiner Sozialisation unsere Werte nicht teilt?“ Werte könne man überarbeiten, fährt sie fort. „Ich sehe aber nicht, dass das bei ihm Sinn macht. Ich weiß auch nicht, was hier zu tun ist.“

Antworten darauf gibt es wohl viele. Eine muss das Gericht geben, wenn es am Mittwoch sein Urteil fällt.