„Wenn lernen deutsch, Englisch kaputt“, sagt Hannah Kyrychenko und erklärt lachend, weshalb Englisch leider keine Alternative ist. Sie lernen drei Mal die Woche im Jobcenter deutsch (B1), zusätzlich treffen sie und eine Gruppe von Ukrainerinnen aus Radolfzell zweimal wöchentlich eine ehemalige Lehrerin, die Sprechen und Grammatik mit ihnen übt.
Das zeigt Wirkung bei Hannah Kyrychenko und Inna Vityuk. Eine kurze Alltagskonversation funktioniert schon. Wenn es darum geht, Komplizierteres zu erklären, verlassen sich die beiden lieber auf den Übersetzer.
Das Wappenzeichen auf dem T-Shirt spricht Bände
Wir sitzen am Esszimmertisch in der kleinen, aufgeräumten Dachgeschosswohnung in Radolfzell, in der Inna Vityuk mit ihrem Sohn lebt. Mit dabei sind Stanislav Karnatsevych, ein Ukrainer, der schon seit 2003 in Deutschland lebt, und Helene Theiner, beide engagiert in der Flüchtlingshilfe. Es gibt Schwarztee und Schokolade.
Die ersten Schritte im Deutschen sind der merklichste Unterschied zu unserem Treffen vor ziemlich genau einem Jahr. Damals haben sie und eine weitere Ukrainerin dem SÜDKURIER erklärt, was es bedeutet, das zweite Mal Ostern in der Fremde zu sein. Damals herrscht schon über ein Jahr Krieg in ihrer Heimat, inzwischen sind zwei daraus geworden.
Doch Hannah Kyrychenko und Inna Vityuk haben noch große Hoffnung. Auf Inna Vityuks T-Shirt prangt der Trysub, der Dreizack ist das Wappenzeichen der Ukraine, auch auf den Sweatshirts von Präsident Wolodymyr Selenskyj ist es zu sehen.

„Unser Glaube an den Sieg hat sich nicht verändert“, sagt Inna, jetzt mit Hilfe von Übersetzer Stanislav Karnatsevych. Sie wirkt überzeugt, als sie sagt, dass die Hoffnung auf den Sieg ungebrochen sei – aller schlechten Nachrichten vom Kriegsverlauf, vom kürzlich aufgegebenen Awdijiwka, vom Stellungskrieg im Donbass und von der fehlenden Munition zum Trotz.
Hannah Kyrychenko und Inna Vityuk haben auch selbst nicht aufgegeben zu kämpfen, wenn auch fern der Front und ihrem Heimatland, das sie vor zwei Jahren Hals über Kopf verlassen haben, um ihr Leben zu retten, vor allem aber das ihrer Kinder. Inna Vityuks Sohn ist heute neun, Hannah Kyrychenkos Sohn 16, die Tochter 15 Jahre alt. Inna Vityuk floh mit einem Rucksack als Gepäck und ihrer Katze, Hannah Kyrychenkos Polo trägt noch die Spuren der Schüsse, durch die sie nach 14 Tagen, die sie im Keller zuhause in Irpin ausharrte, floh.
Man sieht noch die Spuren des Kriegs am Auto
Aber er fährt noch, drin befindet sich – wie immer – ein großer Sack mit Second-Hand-Kleidung. Spenden, die Hannah wäscht und dann Richtung Ukraine schickt. Von Anfang an treibt die beiden der Wunsch um, zumindest aus der Ferne zum Sieg beizutragen.
Hannah Kyrychenko, die Ärztin, hat gute Verbindungen zu Kliniken im Land. Neben Kleidung und Bettwäsche kaufen und sammeln die beiden medizinische Hilfsgüter, vom Verbandskasten bis zum Rollstuhl. Gebraucht werde alles mögliche – und noch dringlicher als vor einem Jahr, die Ressourcen sind erschöpft.
Um Geld aufzutreiben, basteln und backen sie gemeinsam mit anderen ukrainischen Frauen und verkaufen ihre Produkte auf dem Markt. Inzwischen haben sie sich der Ukraine-Hilfe Konstanz e.V. angeschlossen, das erleichtert den bürokratischen Aufwand und sorgt für Transparenz. Die Transporte in die Ukraine organisieren sie mit festen Fahrern, die dafür sorgen, dass bestimmte Medikamente genau dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Der Heimat zu helfen, das spürt man, ist Inna Vityuk und Hannah Kyrychenko ein inneres Bedürfnis, oder mehr als das. Kyrychenko nennt es existenziell für sie. „Weil ich hier in Sicherheit bin, ist die Arbeit notwendig für mich, weil wir in der Nacht normal schlafen können, während dort heute Nacht sechs Stunden Luftangriffe geflogen wurden.“ Der 38-Jährigen kommen die Tränen, während sie redet.
Hat sie Schuldgefühle, weil sie gegangen ist? „Ich fühle mich in der Pflicht, weil ich es nicht geschafft habe zu bleiben.“ Ja, sie habe ein schlechtes Gewissen, vor allem aber fühle sie große Dankbarkeit denen gegenüber, die das Land und die Kultur verteidigen, die dafür sorgen, dass sie uns ihre Kinder irgendwann zu etwas zurückkehren können.
So ähnlich haben die beiden ihre Motive schon vor einem Jahr geschildert. Aber es ist nicht alles wie vor einem Jahr. Bei Inna Vityuk ist etwas in Bewegung geraten: Die 32-jährige Biochemikerin aus Charkiw ist dabei, sich mit dem Gedanken abzufinden, nicht so schnell zurückzukehren.
Weil dort noch Freunde und Verwandte leben, kennt sie die Situation dort sehr gut: „Man kann nicht arbeiten, es gibt keine Schulen, ein Kind hat dort keine Zukunft. Es wäre verantwortungslos, dorthin zurückzukehren.“
Bis vor kurzem habe sie daran geglaubt, von heute auf morgen zurückzukehren, sie saß in ihrer Dachgeschosswohnung in Radolfzell quasi auf gepackten Koffern. Jetzt wird ihr allmählich klar, dass das Warten keinen Sinn macht, dass sie sich hier etwas aufbauen muss.
Sie hat sich selbständig gemacht, arbeitet für die Deutsche Vermögensberatung als Finanzberaterin für Ukrainer in Deutschland. In ihrem Beruf als Biochemikerin unterzukommen dauerte ihr zu lang: Ihre ukrainischen Zeugnisse sind in Deutschland noch nicht anerkannt, dazu der Sprachnachweis. „Ich wollte keine Zeit verlieren.“
Warum arbeiten weniger als in Dänemark oder Polen?
Noch etwas hat sich verändert in diesem Jahr: Die Gefühlslage in Deutschland in Bezug auf die hierher geflüchteten Ukrainer scheint sich abgekühlt zu haben.
Für Schlagzeilen sorgten im vergangenen Herbst Zahlen der Agentur für Arbeit, denen zufolge – Stand Mai 2023 – lediglich rund 19 Prozent der erwerbsfähigen ukrainischen Flüchtlinge einer Beschäftigung nachgingen. Inzwischen ist die Zahl etwas nach oben korrigiert worden: Nach den jüngsten verfügbaren Zahlen aus dem November waren 21 Prozent berufstätig. 113.000 Menschen waren demnach voll sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 36.000 waren Minijobber.
Besonders der Vergleich zu anderen Staaten macht stutzig: Das dänische Beschäftigungsministerium etwa beziffert die Zahl der arbeitenden Ukrainer auf 50 bis sogar 75 Prozent der Erwerbsfähigen, die Niederlande nennen über 46 Prozent, in Polen lag der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten laut Friedrich-Ebert-Stiftung schon 2022 bei 66 Prozent.
„Das treibt die Menschen nicht unbedingt an“
Ukrainer beziehen – anders als Asylbewerber – von Anfang an Bürgergeld in Deutschland, das sind 563 Euro im Monat statt 460, außerdem dürfen sie in einer Wohnung statt in einer Gemeinschaftsunterkunft leben. Joachim Walter, Landrat im Landkreis Tübingen, sagt: „Das treibt die Menschen nicht unbedingt an, hier zu arbeiten.“ Andere Kommunalpolitiker äußerten sich ähnlich.
Wird es den Ukrainern hierzulande also zu leicht gemacht? Hannah Kyrychenko hat die Debatte mitbekommen. Sie zählt selbst zu den gut ausgebildeten Ukrainern, auf die in Deutschland mancher große Hoffnungen gesetzt hat, dass sie schneller als andere Flüchtlinge dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen könnten – und die Lücken stopfen, die der Fachkräftemangel überall reißt.
Kyrychenko ist Ärztin, als solche kann sie ohne ein B2-Niveau hierzulande aber nicht arbeiten – anders als in Polen, wo Bekannte von ihr Ukrainer versorgen dürfen, wofür kein Polnisch nötig ist. Eine niedrig qualifizierte Stelle aber möchte sie nicht annehmen. „Ich würde arbeiten, wenn ich davon auch meine beiden Kinder ernähren könnte“, sagt sie.
„Es kamen traumatisierte Menschen, nicht Fachkräfte“
Helene Theiner kümmert sich in Radolfzell um ukrainische Flüchtlinge, auch Inna und Hannah zählen zu ihren Schäfchen. Die Diskussion versteht sie, aber sie gibt auch zu bedenken: „In erster Linie kamen traumatisierte Menschen aus okkupierten Regionen der Ukraine, nicht Fachkräfte.“
Traumatisiert seien viele bis heute, auch die Familie von Hannah kämpft noch mit den Eindrücken des Angriffs. Es sei eben ein großer Unterschied, mit welcher Motivation jemand hierher komme.
Die Mütter hätten vielfach andere Sorgen als Arbeit zu suchen. „Die Kinder haben Probleme, sich im neuen Land einzufinden. Wenn ein Kind traumatisiert ist, ist die Mutter als erstes für das Kind da, das ist ganz natürlich“, findet Theiner.
Tatsächlich sind die ukrainischen Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter in Deutschland zu 70 Prozent Frauen. Die Flüchtlingshelferin wünscht sich, dass mehr Menschen ins Internationale Frauencafé kämen, damit Hannah Kyrychenko, Inna Vityuk und die anderen Ukrainerinnen ihre Sprachbarrieren besser überwinden.

Hannah Kyrychenko ist es ganz wichtig, ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Für die Unterstützung, die sie in Deutschland erfährt. „Wir wissen um den Wert dieser Hilfe.“ Und sie sei bereit, alles, was Deutschland geleistet hat, nach dem Krieg wieder zurückzubezahlen. Irgendwann, hofft Kyrychenko abschließend, werden wir uns in der Ukraine zu einem Treffen verabreden, bei ihr zuhause. Besuch ist willkommen: Sie will den Deutschen ihr Land zeigen.