Peter Haas versteht es nicht. Warum haben sie alle überhört, die Entscheidung des Bundeskabinetts? Die Ärzte, Patientenschützer, die Medien, Patienten, kaum einer hat reagiert. Dabei habe sie so bemerkenswerte Folgen für die medizinische Versorgung in diesem Land. Es geht um Termine, auf die gesetzlich Versicherte künftig länger warten müssen. Und es geht um Geld, vor allem um Geld.

Wie aber kam es dazu? Und warum wehrt sich niemand?

Gleicher Umsatz bei weniger Gewinn

Nun, dies nachzuvollziehen, ist nicht ganz einfach – zumal ein Blick in die verwinkelte Struktur des Gesundheitssystems nötig ist. Danach hat jeder niedergelassene Arzt pro Quartal ein festgelegtes Maximal-Budget an Einnahmen, das sich am Vorjahr orientiert.

„Nur die Leistungen, die unter oder bis zu diesem Budget erbracht sind, werden vollständig vergütet“, erklärt Peter Haas, der als Internist und Hausarzt in Freiburg eine Praxis führt. Alles, was über dieses Budget hinausgeht, bekommen Mediziner nicht oder kaum bezahlt.

Vergleichbar, erklärt Peter Haas, sei das mit folgendem Beispiel: Ein Bäcker verkauft im Quartal 5000 Brötchen. Im Jahr darauf kommen mehr Kunden – weil andere Bäcker ihr Geschäft geschlossen haben oder die Nachfrage gestiegen ist.

Der Absatz des Bäckers liegt in diesem Quartal also bei 6000 Brötchen. Trotzdem würde er nach der Budgetierung nur Geld für 5000 Stück bekommen. Die übrigen 1000, sagt Haas, seien für die Kunden gratis. „Der Bäcker hat so bei mehr Arbeit und höheren Kosten den gleichen Umsatz, aber bei weniger Gewinn.“

Ähnlich verhalte sich das bei den Ärzten.

Die Arzthonorare der Gesetzlichen Krankenkasse

Damit diese Gleichung bei Medizinern nicht ganz so drastisch ausfällt, hat die Politik vor drei Jahren, 2019, das sogenannte Terminservice- und Versorgungsgesetz beschlossen. Die damit eingeführte Neupatientenregelung hat sichergestellt, dass die Ärzte für neue Patienten voll vergütet werden, erklärt Martina Troescher von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg.

Lehnt die Entscheidung des Bundesgesundheitsministers ab: Peter Haas, Mediziner aus Freiburg.
Lehnt die Entscheidung des Bundesgesundheitsministers ab: Peter Haas, Mediziner aus Freiburg. | Bild: Peter Haas

Für Mediziner war das ein Anreiz, nicht nur ihre Stammklientel, sondern darüber hinaus Menschen zu behandeln, die wegen dieser Regel vergleichsweise schnell einen Termin bekamen, gerade in dringenden Fällen. „Das hat nach meiner Erfahrung die Situation auch merklich entspannt“, bekräftigt Peter Haas. Bis diese Regel auf Initiative von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gekippt wurde.

Den Wegfall der Sondervergütung rechtfertigt der Gesundheitsminister mit Sparmaßnahmen, um das milliardenschwere Defizit der Krankenkassen zu stabilisieren. Die Neupatientenregelung habe sich nicht bewährt, argumentierte er. Dem widersprechen allerdings Erkenntnisse einer Analyse der Abrechnungsdaten für das Jahr 2021, die das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, kurz Zi, durchgeführt hat.

Will das Gesetzgebungsverfahren abwarten: Thomas Beringer, kommissarischer kaufmännischer Leiter des Medizinischen Versorgungszentrums ...
Will das Gesetzgebungsverfahren abwarten: Thomas Beringer, kommissarischer kaufmännischer Leiter des Medizinischen Versorgungszentrums der Spitalstiftung in Konstanz. | Bild: Beringer

Die Auswertung zeigt, dass im vierten Quartal 2021 mehr Neupatienten behandelt wurden als im vierten Quartal 2019, obwohl die ärztlichen Behandlungskapazitäten in diesen zwei Jahren eher weniger als mehr geworden sind.

„Dieses Gesetz ist ein Schlag ins Gesicht der Patientinnen und Patienten in Deutschland. Das müssen wir den Menschen auch so sagen“, kommentierte Andreas Gassen als Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Nur: Die große Empörungswelle blieb bisher aus.

Patienten begreifen die Folgen noch nicht

Peter Haas sagt, dass die Patienten als Leidtragende die mittelbaren Folgen noch nicht begreifen würden. Er sagt: „Das wird zu Aufnahmestopps führen“, speziell in den Facharztpraxen, die anders als niedergelassene Hausärzte in Baden-Württemberg von der Budgetierung betroffen sind.

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Termine, die schon heute begehrt sind – bei Radiologen etwa und Rheumatologen – würden für Kassenpatienten noch schwerer zu bekommen sein. Die Menschen müssten für ihre Termine bald weiter fahren. „In Freiburg sind wir ja noch in einer luxuriösen Lage. Am südlichen Schwarzwald dürfte es um die Dichte an Ärzten schon anders bestellt sein.“

Das Widersprüchliche: Die Nachfrage sei da, sagt Peter Haas. „Es gibt heute so viele Fachärzte, weil alle gebraucht werden.“ Wenn sie ihre Patienten nicht in diesem Quartal behandeln, dann im nächsten. „Das wird ein reiner Verschiebebahnhof.“

Wobei, das betont der Mediziner ebenso, Notfälle auch in Zukunft Priorität hätten. „Als Hausarzt kann man den Patienten beim Facharzt in der Regel auch schnell vermitteln.“ Der Rest muss mehr Zeit einplanen.

Schon jetzt haben einige Fachärzte keine Kapazitäten mehr – der Wegfall der Neupatientenregelung könnte sich das verschlimmern.
Schon jetzt haben einige Fachärzte keine Kapazitäten mehr – der Wegfall der Neupatientenregelung könnte sich das verschlimmern. | Bild: Friso Gentsch

Wer es schneller will, muss zahlen. Die Kassenärztliche Vereinigung will das zwar nicht bestätigen, Peter Haas geht aber davon aus, dass einige Fachärzte die Patienten, die über das Volumen hinausgehen, nur noch als Selbstzahler annehmen könnten. „Das wäre sehr bedauerlich.“

Befürchtungen, die Thomas Beringer grundsätzlich teilt. Er ist kaufmännischer Direktor am Klinikum Konstanz und kümmert sich kommissarisch zudem um die kaufmännische Leitung des Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) der Spitalstiftung in Konstanz. Auch er erwartet, dass der Wegfall der Neupatientenregelung die Terminvergabe für Kassenpatienten insbesondere bei Fachärzten verändern könnte.

Auch das MVZ stünde vor Herausforderungen

Die Entscheidung des Kabinetts, sagt er, stelle niedergelassene Ärzte, aber auch das MVZ vor wirtschaftliche Herausforderungen. Wie anderswo gebe es auch hier Fachbereiche, die terminlich eng besetzt sind, die Onkologie zum Beispiel. Dennoch: „Für das MVZ haben wir einen Sicherstellungsauftrag, dem werden wir auch künftig versuchen nachkommen“, betont Beringer.

Schlüsse aus der Lauterbach-Entscheidung müsse jeder Arzt für sich selbst ziehen. Wobei das alles noch rein spekulativ sei, bekräftigt Beringer. Denn die Entscheidung befände sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren. „Der Entwurf wurde noch nicht im Bundestag beraten und muss dort erst beschlossen werden.“

Die Kassenärztliche Vereinigung des Landes jedenfalls kündigt Protestmaßnahmen an. Darauf bauen auch Peter Haas und Thomas Beringer. „Ich hoffe, dass die Berufsverbände bis dahin ihren Einfluss geltend machen.“ Andernfalls wären die Konsequenzen weitreichend.