Der Krieg in der Ukraine und die Sorge der Bürger um die künftige Energieversorgung haben innerhalb weniger Wochen erreicht, woran sich die grün geführte Landesregierung seit Jahren die Zähne ausbeißt: Der Widerstand der Bürger gegen Windkraftanlagen bricht ein. Und nicht nur das – er verkehrt sich ins Gegenteil. Die Politik soll jetzt beim Windkraftausbau und bei den erneuerbaren Energien kräftig aufs Gaspedal treten, selbst dann, wenn das Windrad in Sichtweite vor der eigenen Haustür zu stehen droht. Und im Gegenzug soll die Politik beim Atomausstieg auf die Bremse treten.
Zugleich belasten die gestiegenen Preise für Strom, Heizöl, Gas, Benzin und Diesel bereits das Alltagsleben vieler Menschen. Jeder vierte Bürger im Südwesten hat Sorgen, dadurch in große finanzielle Schwierigkeiten zu kommen, fast zwei Drittel der Bürger spüren die Preissteigerungen zwar, können sie aber finanziell verkraften.
Ergebnisse des BaWü-Check zeigen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs
Das sind Ergebnisse aus dem aktuellen BaWü-Check, der Umfrageserie der baden-württembergischen Tageszeitungen durch das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD), die sich in ihrem neunten Teil mit dem Ukraine-Krieg und seinen Auswirkungen auf befasst hat. Fast alle Antworten zeigen dabei, wie massiv und schlagartig sich Stimmungslage und Prioritäten der Menschen verändert haben. Vor allem ist der Bevölkerung in den vergangenen Wochen bewusst geworden, wie abhängig Deutschland von Gas- und Öllieferungen aus Russland ist.
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Die Mehrheit der Bevölkerung sieht die Sicherheit der Energieversorgung hierzulande in Gefahr. Wie sehr, das zeigt nach Angaben des Allensbacher Instituts vor allem ein dramatischer Wert: Nur noch sechs Prozent der Bevölkerung halten die Energieversorgung im Land für gesichert, entsprechend ist auch die Stimmungslage der Menschen. Bei vergleichbaren Umfragen in den vergangenen Jahren hatte der Wert dagegen laut IfD stets bei rund zwei Drittel der Befragten gelegen.
Die grün geführte Landesregierung erhält von den Bürgern auf die Frage, wo der Strom künftig herkommen soll, mit der Umfrage eine klare Antwort. Aus mehr Windkraftanlagen und erneuerbaren Energien, was die grün-schwarze Regierungskoalition ohnehin derzeit vorantreibt – und aus der Verlängerung der Laufzeit des Atomkraftwerks Neckarwestheim II. Der Meiler soll als einer von drei derzeit noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerken in Deutschland planmäßig Ende 2022 vom Netz gehen.
Nun hat sich im aktuellen, von den Kriegsfolgen geprägten BaWü-Check eine Mehrheit der Baden-Württemberger (57 Prozent) zur Sicherung der Energieversorgung für eine Laufzeitverlängerung von Neckarwestheim II ausgesprochen. Selbst aus der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen ist fast die Hälfte der Befragten (48 Prozent) für eine längere Laufzeit, in allen höheren Altersgruppen gibt es eine klare Mehrheit dafür. Nur 28 Prozent sprechen sich weiter für die geplante Abschaltung zum Ende des Jahres aus.
„Einfach“ die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängern?
Was die Landespolitik und den Kraftwerksbetreiber EnBW betrifft, bestehen kaum Chancen dafür. Sowohl die baden-württembergische Umwelt- und Energieministerin Thekla Walker (Grüne) als auch die EnBW selbst haben auf SÜDKURIER-Anfrage erst vergangene Woche auf den bestehenden Ausstiegsbeschluss und die grundsätzliche Zuständigkeit des Bundes verwiesen, der das Ausstiegsdatum gesetzlich festgelegt hat. Über Nacht geht eine Laufzeitverlängerung schon gar nicht. Zuerst bedürfte es einer Änderung des Bundesgesetzes, zudem hat sich der Betreiber EnBW seit Jahren auf dieses Ausstiegsdatum vorbereitet.
Dies betrifft die bereits seit 2016 errichte Rückbau-Infrastruktur samt zugehörigen Verträgen, die Personalplanung, aber vor allem auch die Beschaffung der für einen Weiterbetrieb nötigen Brennelemente. Experten rechnen damit, dass die Herstellung neuer Brennelemente nach einem Verlängerungsbeschluss mindestens 1,5 Jahre dauern würde – vor Ende 2023 wäre ein Weiterbetrieb dann kaum möglich. Zudem stammte laut der Euratom-Versorgungsagentur Esa bislang fast die Hälfte (42 Prozent) des für die Brennelemente benötigten Urans aus Russland und den russlandtreuen Staaten Kasachstan und Usbekistan.
Anders sieht es bei der Windkraft aus, deren Ausbau in Baden-Württemberg 60 Prozent der Bürger unterstützen. Die Mehrheit geht quer durch die Anhänger aller Parteien und erreicht selbst das FDP-Lager (56 Prozent Zustimmung) – mit Ausnahme der AfD-Anhänger.
Für den schnelleren Ausbau sind die Bürger nun mehrheitlich sogar bereit, auf ihr Einspruchsrecht zu verzichten (55 Prozent) und selbst Windräder in der Nähe der eigenen Haustür zu akzeptieren (58 Prozent).
Aber bis sich dort etwas dreht, dauert es selbst im Fall der Halbierung der derzeitigen Planungsdauer von bis zu sieben Jahren pro Anlage noch viel zu lang, bevor Baden-Württemberg die eigene Windenergie-Bilanz aufpäppeln kann. Schon die Verfahrensverkürzung, die an diesem Donnerstag im Landtag auf den parlamentarischen Weg gebracht werden soll, wird frühestens nach der Sommerpause in Gesetzesform gegossen.
Aber so weit, dass sie sich mehrheitlich für ein spritsparendes Tempolimit aussprechen, geht für viele Baden-Württemberger die Energiekrise noch nicht. Nur 37 Prozent der Bevölkerung im Autoland Baden-Württemberg halten ein vorübergehendes Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen für sinnvoll, um den Verbrauch von Kraftstoffen zu senken.
Sie wollen vor allem bei den Tankkosten sparen. Und haben eine klare Meinung darüber, wie das gehen soll: 69 Prozent fordern weniger Steuern auf Diesel und Benzin.