In einer Geschichte über Johannes F. Kretschmann muss natürlich stehen, dass er der Sohn von Winfried Kretschmann ist, Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Zumindest, wenn diese Geschichte nicht in der Lokalzeitung erscheint. Die „Bild“-Zeitung schreibt: der „kleine Kretschmann“ oder „Kretschmann junior“. Die Bunte nennt ihn den „grünen JFK aus dem Schwabenländle“, weil Kretschmann so etwa seine Mails beendet. JFK wie John Fitzgerald Kennedy, 35. Präsident der USA. Das hat was.
Die Geschichten über Johannes F. Kretschmann häufen sich gerade, denn – und das muss natürlich auch in jeder von ihnen stehen – er ist Bundestagskandidat der Grünen für den Wahlkreis 295 Zollernalb-Sigmaringen. Im April wurde er auf die baden-württembergische Landesliste seiner Partei gewählt. Mit 74,38 Prozent der Stimmen, Platz 22. Eine „bunte Liste kluger Kandidat*innen“ aus Grünen-Sicht. Ach ja, dass JFK Waldhorn spielt, wird ebenfalls gerne erwähnt.
Immer geht es irgendwann um seinen Vater
Kretschmann weiß selbstverständlich, warum sich Journalisten mit ihm in Laiz, einem Ortsteil der Kreisstadt Sigmaringen, treffen möchten. Für den 42-Jährigen ist das eine Chance, wie sie wenige haben, die neu in den Bundestag wollen. Und eine Gratwanderung, die manchmal nervt. Immer geht es irgendwann um seinen Vater, den ersten grünen Ministerpräsidenten, der – so die linke Tageszeitung taz – „zum Begründer einer Dynastie werden“ könne. Seine Frau sei ja lange im Sigmaringer Gemeinderat gewesen, ihre Schwester Dorothea Wehinger Landtagsabgeordnete für den Wahlkreis Singen.

Johannes Kretschmann ist ehrenamtlicher Vorsitzender der Sigmaringer Kreistagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Als Berufsbezeichnung vermerkt die Internetseite des Landratsamtes „Freischaffender Texter“. Wird er am 26. September in den Bundestag gewählt, kann er sich als Berufspolitiker bezeichnen. Was in den Geschichten, die über ihn geschrieben werden, zu kurz kommt, ist: dass sich da einer einem Wendepunkt seines Lebens nähert. Mit weitreichenden Folgen.
Von den Sandalen bis zum Hemd in schwarz gekleidet
Ein Besuch also in 72488 Sigmaringen-Laiz mit seinen knapp 3000 Einwohnern, wo sich das durch steile Jurafelsen eingeengte Flussbett der Donau in Richtung der angrenzenden Kreisstadt Sigmaringen in die Flussaue, bis hin zum Schloss Sigmaringen, verbreitert und das Moränengebiet beginnt. Formuliert Wikipedia etwas holprig.
Steine liegen an diesem Tag Anfang Mai neben den Stufen, die zur katholischen Kirche führen. „Hab Vertrauen“, hat jemand auf einen geschrieben, „Frohe Weihnachten“ auf einen anderen. Dass man an dem unscheinbaren Haus gegenüber richtig sein muss, sieht man zuerst an der Kanne mit dem „Atomkraft? Nein danke“-Aufkleber hinterm Fenster neben der Eingangstür; danach am Klingelschild, auf dem klein sein Name steht.
JFK öffnet und füllt den Türrahmen aus, von den Sandalen bis zum Hemd ganz in Schwarz. Er hat was von einem Studenten. Kretschmann ist Religionswissenschaftler, Rumänistiker, Sprachwissenschaftler, bis 2019 arbeitete er als Online-Redakteur für das Schweizer Portal bluewin.ch, was ihm mäßig gefiel. „Eine schnelllebige Sache, der Online-Journalismus, und in der Tendenz nicht selten den Werten zuwiderlaufend, für die ich ansonsten als Bürger und Politiker eintrete“, schreibt er auf seiner Internetseite zu einer Leseprobe. Der verlinkte Text hat die Überschrift: „Pferde in Großbritannien werden immer fetter – auch in der Schweiz?“
Bei einer Frage kommt er ins Grübeln
Man kann sich lange und bei starkem Kaffee – die Bohnen mahlt Kretschmann in einer Kurbel-Kaffeemühle – mit ihm an seinem Küchentisch unterhalten. Über Alt- und Mittelhochdeutsch, „Querdenker“, TV-Serien, „Biber-Eldorado“ am nahen Stelzenbach oder Klimapolitik.
Eine Frage allerdings bringt ihn zum Nachdenken. Es ist die nach seiner Berufsbezeichnung. „Schwierig“, sagt er, und dass er sich grad für Sprachwissenschaftler entschieden habe. Und seine schriftstellerische Tätigkeit? Kretschmann verfasste Kurzgeschichten, schwäbische Dichtkunst. „Ich hab halt einfach noch kein belletristisches Buch veröffentlicht“, sagt er. „Solange ich keines veröffentlicht habe, bin ich kein Schriftsteller aus meiner Sicht.“
Sein Erstlingswerk – längere Erzählung, kurzer Roman – möchte er bis zur Bundestagswahl fertig geschrieben haben. Die Geschichte verrät er nicht. Sich selber zu interpretieren, gehe gar nicht. Es sei eine dystopische Erzählung. Er trage den Stoff seit vielen, vielen Jahren mit sich herum, sagt Kretschmann. Jedes Wort lege er drei Mal auf die Goldwaage. Einen Verlag habe er an der Angel.
Ob er bald Berufspolitiker oder Schriftsteller sein wird, ist ungewiss. Diese Wahl werde ihm am 26. September abgenommen. „Dann bin ich wahrscheinlich, oder auch nicht, eben Politiker, fertig, aus“, sagt er. Ein Grünen-Ergebnis von etwa 15 Prozent bundesweit könnte ihm unter Umständen reichen. Aktuell liegen die Grünen in Umfragen stabil bei weit über 20 Prozent und meist vor der Union.
Das Problem: Umfragen sind Momentaufnahmen, und wegen der Corona-Pandemie ist der Wahlkampf kompliziert. Kretschmann setzt auf digitale Formate, „teilweise bis zum Exzess“. Videokonferenzen, Instagram.
Ein Erfolg war es für ihn, dass 45 Interessierte kürzlich an der Onlineveranstaltung „Religiöse Vielfalt leben und begreifen“ teilnahmen. Er erzählte ihnen anfangs die Äsop-Fabel über den Streit des Nordwinds mit der Sonne. Denn: Geschichten seien wirkmächtig, auch in der Politik.
Ein ungleich größerer Erfolg war, dass ein YouTube-Video seiner Rede auf dem Landeslistenparteitag der Grünen in Heilbronn bislang gut 1500 Mal aufgerufen wurde. Cem Özdemir, Spitzenkandidat der Südwest-Grünen, kommt auf gut 1150.
Noch bastelt er an seiner Strategie
Ob er so Wählerstimmen gewinnt, weiß er nicht. Zurzeit feilt er an seiner Strategie und seinem Fahrplan bis zur Wahl. Wann müssen Großplakate bestellt werden? Wie kann er die eigenen Leute mobilisieren? Seine Themen: der Kampf „um jeden Quadratzentimeter mehr Klimaschutz“, etwa durch den Ausbau der Wind- und Sonnenenergie. Und Osteuropapolitik. Republik Moldau, Transnistrien, Nordzypern. Er sagt, dass er mit diesem Fokus selbst in seiner Partei mitunter etwas querliege.

Sein SPD-Konkurrent Robin Mesarosch griff es bereits auf. Kretschmann habe auf dem Parteitag vorwiegend über Nachtfalter und Osteuropa gesprochen. „Das ist nicht das, was die Leute bei uns interessiert, und das ist auch nicht das, was sie verdienen.“
Als Hauptkonkurrenten hat JFK gleichwohl Thomas Bareiß ausgemacht. Der CDU-Politiker ist seit 2005 Bundestagsabgeordneter, parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Tourismus- und Mittelstandsbeauftragter der Bundesregierung. Vier Mal holte er das Direktmandat.
Kretschmann sagt, er sei nicht der Typus Politiker, der seinen Gegner verteufele. Bareiß drückt sich ähnlich aus. „Unabhängig davon, wie die Kandidaten heißen: Ich nehme jede Wahl und jeden Kandidaten ernst, wie in den vergangenen Jahren auch“, schreibt er in einer E-Mail. Beide meiden jedes schlechte Wort über den anderen.
Aus der Kirche ausgetreten
Kretschmann versus Bareiß. Das ist Grün gegen Schwarz, Bundestagskandidat gegen Berufspolitiker, Baskenmützen- gegen Anzugträger, nicht zuletzt: ein „Heide“ gegen einen evangelischen Christen. Heide, so bezeichnet sich Kretschmann. „Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten, aber entscheidender für mich war, dass ich aus dem Christentum ausgetreten bin.“ In der christlichen Religion sei der Glaube sehr wichtig, er aber könne nicht an die Auferstehung der Toten oder an die Dreifaltigkeit glauben. Früher habe er mit seinem Vater, der am Gymnasium sein Ethiklehrer war, über solche Fragen gestritten.
Sein Vater, der Landesvater. „Zum Glück bin ich nicht der Sohn von Stalin oder Kim Jong Il“, sagt Kretschmann. Die Formulierung scheint er sich zurechtgelegt zu haben. Er spricht jetzt von Argwohn, Missgunst und Neid, der ihm schon entgegenschlug. Den hohen Erwartungen an ihn, allein aufgrund seines Nachnamens. Der Kritik aus Reihen der Grünen, die nichts von einer Koalition mit der CDU und seinen Vater für zu CDU-nah halten. Andererseits denke mancher Wähler gewiss: Wenn der Vater ein Guter sei, werde der Sohn kein Depp sein. Wie Winfried Kretschmann ist Johannes Kretschmann ein grüner Realo, ein Pragmatiker. Gelegentlich glaubt man seinen Vater durch ihn reden zu hören. Ob der ihm Tipps gebe für seinen Weg in die große Politik? „Er kann mir nicht helfen, das erwarte ich auch nicht von ihm“, sagt er und wechselt das Thema.
Zum Mittag gibt es Indischen Brokkolitopf mit Schweinegeschnetzeltem
Essenszeit. Kretschmann hat im „Freiraum Bistro & Café“ vorbestellt, einmal die Straße runter und ein paar Meter links. „Indischer Brokkolitopf mit Kokosreis und Salat, mit Schweinegeschnetzeltem. Allergene: Sellerie“. Später will sich Kretschmann den Biber-Verbiss am Stelzenbach anschauen, Mails beantworten und eine Runde laufen. Er hat sich vorgenommen, 100 Kilometer – „plus X“ – im Monat zu schaffen. Zuvor jedoch möchte er in den „Fürstlichen Park Inzigkofen“,
Verdauungsspaziergang. Dazu geht‘s zu seinem Elternhaus, gleich um die Ecke. Das ehemalige Gasthaus Lamm, an dessen Mauern es grünt und auf dessen Dach Solarzellen Sonnenlicht in Energie umwandeln. Garagentür auf, Elektro-Kleinstwagen raus. Der hat es dank eines Interviews seines Vaters zu bundesweiter Beachtung gebracht. Vor der Landtagswahl im März wurde Winfried Kretschmann gefragt, ob sein nächstes Privatauto wieder ein Diesel werden würde. „Das ist ein reines Elektroauto. Das habe ich vor einem Jahr bestellt und hab‘s immer noch nicht“, sagte er.
Vom Felsen ins Wasser der Donau gesprungen
Keine zwei Minuten danach ist der Parkplatz am Park erreicht. Kretschmann läuft mit hinter dem Rücken verschränkten Armen voran. Es ist ein Ort seiner Kindheit, bergan, bergab, zur Donau. Kretschmann erzählt, dass er früher vom Felsvorsprung hier ins Wasser gesprungen sei – und dass ihn die Bremsen schier aufgefressen hätten. Geht heute nicht mehr so gut, das Springen – weil das Donauwasser nicht tief genug ist und sich einer, der in den Bundestag will, vielleicht nicht unbedingt mehr in Badehose von Donau-Felsvorsprüngen stürzen muss.
Auf dem Rückweg hält er für einen Moment inne: ein Buntspecht. Schnellen Schrittes läuft er weiter. Und kommt im September möglicherweise im Bundestag an.