Der Reiter und der Bodensee! Als Georg Stärr Schwabs Ballade vom mutigen Reiter hörte, der die Strecke zwischen Wallhausen und Überlingen auf seinem Ross übersprang, besuchte er noch die Volksschule. „Der Reiter vom Bodensee – das will ich mal sein!“, soll er seinem Lehrer stolz gesagt haben. Eine Anekdote, die in der Familie Stärr aus Fischbach bis heute erzählt wird. Schließlich ging Georg Stärrs Kindheitstraum während der großen Seegfrörne am 12. Februar 1963 tatsächlich in Erfüllung: Er wurde zum legendären Bodenseereiter.
Zu Besuch bei Stärrs in Fischbach. Dass hier die Nachfahren des Bodenseereiters leben, sieht man bereits von der Zeppelinstraße aus. Im Putz der Hausfassade ist der Reiter verewigt, hoch oben auf der braunen Haflingerstute Monika. „Die hatte mein Vater damals von einem Bauern geliehen“, erinnert sich Roland Stärr, „mit Zuckerwürfeln musste er sie überzeugen, sich überhaupt aufs Eis zu wagen.“

Auf dem Eis, da waren damals, im Februar 1963 zur Zeit der letzten großen Seegfrörne, alle unterwegs. Auch Roland Stärr, gerade mal zehn Jahre alt, zog es nach Schulschluss direkt aufs Eis. „In der Manzeller Bucht gab es meterhohe Eisberge, auf denen wir herumkletterten und Streiche spielten“, sagt er und zeigt auf ein Bild: „Das da, das bin ich!“
Sein Vater Georg, Sohn eines Fischers, hatte sich zu dieser Zeit am östlichen Bodenseeufer längst einen Namen gemacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg schuf er „mit seinen bloßen Händen“, wie seine Schwiegertochter Christine Stärr erzählt, einen der schönsten Plätze am Obersee: den heutigen Biergarten Stärr-Schorsch – ein Kult-Lokal in der Manzeller Bucht. Zunächst noch als Bootsverleih, später mit Gastronomie. Der See und der Schorsch – sie waren gut miteinander.
Als der See in Folge einer langen Kälteperiode im Winter 1963 zu frieren begann, wagte sich der damals 52-jährige Georg Stärr früh aufs Eis. „Mit Bekannten aus Hagnau lief er nach Altnau rüber, später nahm er auch seine Fischbacher Freunde mit“, berichtet Roland Stärr. Am Anfang haben die Kinder nicht mitgedurft, erst später, als es sicherer wurde, sei die ganze Familie aufs Eis gegangen. „Als der Vater von der großen Eisprozession hörte, war für ihn klar, dass er sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen kann“, erzählt Roland Stärr.
Die Eisprozession gab es zuletzt 133 Jahre zuvor. Der Plan: Die Katholiken der Schweizer Pfarrei Münsterlingen sollten die in der Pfarrkirche Hagnau aufbewahrte Holzplastik des Evangelisten Johannes auf die andere Seite des Sees zurück holen. 1830 wurde sie von den Schweizern über den damals zugefrorenen See gebracht.

„Der Mutter sagte er nix davon“
Georg Stärr bereitete sich und die ausgeliehene Stute Monika auf den großen Tag vor. Er übte den Ritt, lieh sich einen Frack und Hut aus. „Uns Kindern erzählte er von seinem wagemutigen Vorhaben“, so sein Sohn, „aber der Mutter, der sagte er nix davon.“ Die hätte ihn wahrscheinlich abgehalten.
Am Tag vor der Prozession sprach er in der Schweiz vor, doch die Schweizer lehnten seinen Wunsch, vom Schweizer Ufer aus mitzureiten, ab. Also änderte er seinen Plan. „Am frühen Morgen des 12. Februars brachte er die Stute mit dem Anhänger nach Hagnau und ritt von dort aus in Richtung Altnau los, wo er auf die Prozession wartete“, erinnert sich Roland Stärr. Er selbst war zu diesem Zeitpunkt in der Schule, von der Prozession bekam er nichts mit.

Später hätten sich die Menschen, immerhin waren 2500 bei dem Spektakel dabei, erzählt, dass die Teilnehmer beim Anblick des Bodenseereiters gerufen hätten: „Ein Schweizer, ein Schweizer – ah, das ist ja der Stärr-Schorsch!“ Mit Böllern, Glockengeläut, Musik und Gesang wurden die Prozessionsteilnehmer in Hagnau begrüßt, es herrschte Volksfeststimmung. Mittendrin Georg Stärr, der Reiter vom Bodensee!

Die Seegfrörne 1963, sie ist Teil der Geschichte der Familie Stärr. Auch Roland Stärr, heute 71 Jahre alt, hatte lange gehofft, irgendwann auf dem Pferd über den See reiten zu können. „Dank dem Klimawandel hab ich diese Hoffnung schon lang aufgegeben“, sagt er. Viele Nachmittage haben sie in ihrer Küche in Erinnerungen geschwelgt, berichtet Christine Stärr. „Mein Schwiegervater hat irgendwann erzählt, dass ihm der Gedanke, dass dieser Ritt richtig gefährlich sein könnte, erst viel später gekommen sei.“
„Sein Tod war so spektakulär wie sein ganzes Leben“
Mit 89 Jahren wurde Georg Stärr beim Überqueren der Zeppelinstraße, wenige Meter von seinem Wohnhaus entfernt, angefahren. Infolge des Unfalls verstarb er. „Sein Tod war so spektakulär wie sein ganzes Leben es war“, sagt seine Schwiegertochter. Der Reiter vom Bodensee, er bleibt der Nachwelt in guter Erinnerung.