Christian Jungo ist 44 Jahre alt und ein gut aussehender Typ. Gegelte Haare, dunkle Augen, Hipster-Bart, nettes Lächeln. Also so wie die Väter, die man am Wochenende auf den Spielplätzen trifft. Oder wie der nette Kollege aus dem Großraumbüro, der irgendwas mit Computern und Internet macht. Pornosüchtige – das sind vielleicht ergraute Herren mit Bierbäuchen, die sich heimlich aus Pornokinos schleichen? Möglicherweise auch schüchterne junge Typen, die sich nicht trauen, Frauen in die Augen zu schauen. Aber auf keinen Fall Männer wie Christian Jungo. Schnell wird klar: Wer wirklich etwas über Pornosucht erfahren will, muss Schubladendenken und Vorurteile ablegen. Hier geht es um ein gesellschaftliches Tabu und eine ernst zu nehmende Suchterkrankung, deren Betroffene oft jahrelang vor Scham schweigen.

„Pornosüchtige leiden zutiefst“

Christian Jungo will nicht mehr schweigen. Er ist Familienvater, erzählt er im Skype-Interview. Beruflich macht er tatsächlich etwas mit Computern und Internet. Er spricht Schweizerdeutsch, denn er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in einer kleinen Gemeinde, irgendwo zwischen Bern und Zürich. Ich biete ihm ein Pseudonym an. Er lehnt ab. Er will sich und seine Geschichte nicht verstecken. „Es gibt gesellschaftlich eine Bagatellisierung und ich wurde auch schon ausgelacht“, sagt er, „aber eigentlich sind die Menschen genauso süchtig wie ein Kokainsüchtiger auch. Und sie leiden zutiefst.“

Dann erzählt Christian Jungo für unseren SÜDKURIER-Podcast seine Geschichte. Wie er mit 14 zum ersten Mal Erotikhefte in die Hände bekam und erregt von den nackten Frauenkörpern onanierte.

Er war 22, lebte in einer WG, hatte sich gerade sein erstes Laptop gekauft. Im Netz entdeckte er die ersten Pornofilme und war gefesselt von den vielen nackten Körpern, den Rollenspielen, der Hemmungslosigkeit. „Manchmal habe ich mal einen Monat nicht geschaut, dann aber wieder eine halbe Nacht lang oder täglich mit mehreren Orgasmen“, berichtet er. Erst viele Jahre später, als sein Leben als junger verheirateter Mann völlig außer Kontrolle geriet und seine Beziehung zu seiner Frau stark unter seinem Verhalten litt, erkannte er: „Es ist eine Sucht und diese wird mich ruinieren.“

Christian Jungo aus der Schweiz hat es mit Hilfe eines Seelsorgers aus der Pornosucht geschafft, berichtet er. Damals, 2010, war es schwer, Hilfe zu finden. Doch auch heute, viele Jahre später, geht es vielen Betroffenen noch so.

Kornelius Roth ist Psychiater und therapiert seit Anfang der 1980er-Jahre Sexsüchtige.
Kornelius Roth ist Psychiater und therapiert seit Anfang der 1980er-Jahre Sexsüchtige. | Bild: Michael Hudelist

Der Psychiater

Als sich Kornelius Roth, Psychotherapeut und Psychiater aus Bad Herrenalb, Anfang der 1980er-Jahre zum ersten Mal mit der Pornosucht beschäftigte, gab es noch keine Internet-Plattformen wie „Pornhub“, auf der täglich 115 Millionen Menschen unterwegs sind. Dafür Sexkinos und Videotheken, wenngleich die Hemmschwelle für den Konsum größer gewesen sei. „Mit der Internetpornografie hat sich das stark verändert“, sagt Roth. Er gilt – auch in den Kreisen von Betroffenen und bei Selbsthilfegruppen – als Koryphäe im deutschsprachige Raum, wenn es ums Thema sexuelle Süchte geht. Sein Buch ‚‘Sexsucht – ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige‚‘ (Ch. Links Verlag) ist bereits in der sechsten Auflage erschienen – und gilt als Standardwerk. Wohl auch deshalb, weil es bislang das einzige Buch zum Thema ist.

Die Sucht beginnt in der Kindheit und Jugend

Schätzungen zufolge sind rund fünf Prozent aller deutschen Männer und lediglich ein Prozent der Frauen pornosüchtig. „Die Sucht fängt meist in der Kindheit und Jugend an“, sagt der Psychiater, „denn Online-Pornos sind heute leider der Aufklärungsunterricht unserer Kinder.“ Während Roths Patienten früher eher ältere Herren gewesen seien, kämen heute immer mehr junge Männer zu ihm. Fast alle seien bereits in der späten Kindheit mit Pornografie konfrontiert worden. Roth selbst therapiert ausschließlich Männer.

Kontrollverlust, Isolation, Verlust

Doch wie viel Pornokonsum ist normal? Und was sind die Anzeichen für eine (beginnende) Sucht? Nicht allein die Dauer des Pornokonsums sei ausschlaggebend, sondern vor allem die negativen Folgen, die das Verhalten für jemanden hat, meint Roth. Es gebe durchaus beispielsweise Paarbeziehungen, in denen beide Partner gerne ab und zu gemeinsam Pornos schauen oder sogar selbst produzieren und glücklich dabei sind.

„Dann haben sie neben ihrer realen Sexualität eben auch eine gemeinsame Pornoebene“, sagt Roth. Problematisch werde es dann, wenn einer von beiden unter dem Konsum leide.

Oder wenn – wie in vielen Fällen – verloren in der virtuellen sexuellen Entlohnung erst gar keine eigene reale Sexualität aufgebaut und gelebt werden kann, weil die virtuelle Befriedigung isoliert. „Das Ganze ist kein Kinderspiel, sondern eine maligne Entwicklung für die Betroffenen. Sie ziehen sich immer weiter in den sexuellen Internetbereich hinein, treffen keine Freunde mehr, hören auf mit ihren Hobbies, schreiben schlechte Noten in der Schule, fallen durch Prüfungen und werden in der Folge immer weiter vom realen Leben isoliert“, berichtet Suchtmediziner Roth.

Ein weiteres wichtiges Kennzeichen für die Suchterkrankung ist der Kontrollverlust, wie ihn auch Christian Jungo aus der Schweiz schildert. „Wenn sich jemand vornimmt, dass er fünf Minuten Pornos schauen will und nach fünf Stunden macht er den Rechner wieder aus, erfährt er einen Kontrollverlust – nicht nur über die Menge, sondern meist auch über die Inhalte“, sagt der Bad Herrenalber Psychiater.

Das Fatale: Die Pornosüchtigen geraten laut Roth in einen Kreislauf, der sich immer schneller dreht, der Konsum nimmt immer mehr Zeit in Anspruch und die sexuellen Reize werden mit der Zeit meist härter. „Die Betroffenen erleben viele Orgasmen, aber keine sexuelle Befriedigung.“ Und schließlich verlieren sie ihr ganzes, altes Leben. Manchmal ihre Jobs, ihre Partner, einfach alles.

Therapieziel: Nie wieder Pornos schauen

„Die Menschen, die davon betroffen sind, haben echt ein Problem und wollen häufig wieder umkehren und den Rückweg antreten – und es geht auch“, sagt Roth. Rund zwei Drittel der Männer, die zu ihm kommen, schaffen es, „trocken“ zu werden. Das heißt: die Betroffenen müssen abstinent von der Pornografie werden, haben aber weiterhin reale sexuelle Kontakte. Auch die Möglichkeit von Onanie ohne Bilder bleibt für die Betroffenen meist erhalten. „Das Gehirn ist lebenslang verwundet, es ist nicht umkehrbar. Die Pornografie-Abstinenz gilt also für das ganze Leben. Dieser Lernprozess wurde einmal gemacht. Ein trockener Alkoholiker kann auch nicht zur Feier seiner Trockenheit einen Sekt trinken. So ist es mit der Pornografie auch“, erklärt der Therapeut.

Ähnlich wie bei anderen Süchten wird die Rückfallquote laut Roth mit den Jahren der Abstinenz immer geringer. „Aber es gibt auch vulnerable Punkte, beispielsweise, wenn eine Beziehung scheitert. In dieser Situation ist der Betroffene besonders gefährdet, wieder in seine alten Muster zu verfallen.“

Das kann auch Christian Jungo bestätigen: „Wenn es beispielsweise im Job nicht gut lief, hatte ich sofort den Impuls, Pornos zu schauen.“ Roth erklärt das so: „Das Belohnungszentrum im Gehirn wird über lange Zeit so bedient. Dieses Muster muss man erstmal durchbrechen.“ Dann gilt es Ersatzbefriedrigungen zu finden, beispielsweise durch Sport.

Gelingt das, erfahren „trockene“ Pornosüchtige eine Verbesserung ihrer Lebenssituation. Ihre Beziehungen werden besser, sie werden beruflich erfolgreicher, integrieren sich stärker in die Gesellschaft. „Das alles war nicht möglich, als sie vor dem Rechner versumpft sind. Der Weg ist lebenslang. Es geht jeden Tag darum, trocken zu bleiben“, sagt Roth.

Die Gesellschaft

Bis Süchtige erkennen, dass die Internet-Pornos für einen Absturz gesorgt haben, vergehen oft Jahre. Vielleicht auch deshalb, weil die Pornosucht viele Jahre lang auch in Medizinerkreisen nicht ernst genommen wurde. Über dieses gesellschaftliche Tabu spricht man nicht – nicht mal mit dem Hausarzt.

Bis heute gibt es in Deutschland keine validen Zahlen und wenig Forschung zu Pornosucht. Das könnte sich ändern, denn die WHO hat die Pornosucht und anderes zwanghaftes Sexualverhalten zur Krankheit erklärt.

Die anonymen Selbsthilfe-Gruppen

Bisher gibt es nur eine Handvoll Psychotherapeuten und Psychiater in Deutschland, die sich spezialisiert haben. Menschen, die unter ihrem Pornokonsum oder Sexsucht leiden, organisieren sich deshalb häufig selbst – beispielsweise in Selbsthilfegruppen. Die beiden größten nennen sich „Anonyme Sexaholiker„ (AS) und „Anonyme Sex- und Liebessüchtige„ (SLAA) und laden in nahezu allen deutschen Großstädten zu Gruppentreffen ein, unter anderem in Konstanz und Ravensburg.

Ein persönliches Treffen mit Journalisten lehnen beide Gruppierungen ab. „Unsere Treffen sind geschlossen und nur für die Menschen, die sich zur Sexsucht bekennen und den Wunsch haben, die Lüsternheit aufzugeben und sexuell nüchtern zu werden. Wir bieten keine Sextherapie, Gruppentherapie oder Behandlungen irgendwelcher Art an“, antwortet „Achim“ vom AS. Er freue sich, wenn über „Sexsucht als zerstörerische Krankheit“ berichtet werde, aber: „Wir bekennen uns nie öffentlich – sei es in der Presse, im Radio, Film oder im Fernsehen – zu unserer Mitgliedschaft zu AS. Auch kann niemand für AS sprechen. Unsere Beziehungen zur Öffentlichkeit stützen sich mehr auf Anziehung als auf Werbung.“

Auch wenn die AS ihre Unabhängigkeit von (politischen) Verbänden und Kirchen betonen, bedienen sie sich den Prinzipien der Anonymen Alkoholiker, die wiederum historisch im christlichen Protestantismus verwurzelt sind. Beide Gruppierungen wurden im Mittleren Westen der USA gegründet und arbeiten auch heute noch mit den 12-Schritte-Programmen, in denen es um einen Weg geht, der zu spirituellem Erwachen und Genesung führt.

Warum Gottes Hilfe oft eine Rolle spielt

Dass „Gottes Hilfe“ bei vielen Pornosüchtigen, wie auch bei Christian Jungo aus der Schweiz, eine so große Rolle spielt, weiß auch Psychiater Kornelius Roth. „Die Idee von diesen 12-Schritte-Gruppen ist, dass man sich hinterfragt und im Leben neu orientiert und sagt, nicht mein aus dem Suchtverlangen gebildeter Wille zählt, sondern – wie im Vater-Unser – dein Wille, also Gottes Wille zählt.“

Da Suchterkrankungen oft eine fehlgeleitete Willensbildung, die zu einem Kontrollverlust über den eigenen Willen führt, zugrunde liegen würde, seien diese Programme in Ordnung. Auch wenn er selbst nicht mit Gottes Willen therapiert, sei ihm jeder Ansatz recht, der diese „krankhafte Willensbildung hilft zu korrigieren.“ Kritischer wiederum sieht er fundamentale, evangelikale Gruppen, die Pornosüchtigen ebenfalls Hilfe anbieten. Die wiederum sind laut Roth vor allem auf „Missionierung“ und „Moralisierung“ der Gesellschaft aus.

Pornosucht – ein Mythos?

Kritik an der Pornosucht und ihren Therapien kommt aus der kulturwissenschaftlichen Ecke. Kulturwissenschaftlerin Madita Oeming, die „Porn Studies“ an der Freien Universität Berlin unterrichtete, promoviert zum Thema „Pornosucht als Amerikas Moralpanik des Digitalen Zeitalters“.

  • Ist Pornosucht also lediglich eine Erfindung der Konservativen, der christlichen Fundamentalisten oder der Psychomedizin? Ein Mythos, also? „Ja und nein“, sagt sie, „ich denke, den Leidensdruck, den sie benennen will, gibt es. Aber die vielen angeblichen Wahrheiten und vor allem die epidemieähnliche Panik, die bei dieser Diagnose mitschwingen, halte ich durchaus für Mythen.“
  • Gibt es eine kulturell bedingte Angst vor Pornosucht? Für ihre Promotion erforscht Oeming, „wie eine nicht offiziell anerkannte Diagnose sich derart im öffentlichen Bewusstsein verfestigen konnte“, wie sie sagt. „Dabei spielen Medien eine zentrale Rolle“, erklärt Oeming, „aber auch religiöse und rechtskonservative Gruppen, die Pornosucht für ihre Zwecke instrumentalisieren.“ Außerdem beschäftige sie sich mit den kulturellen Ängsten, die im Zusammenhang mit diesem Schlagwort aufleben. Zum Beispiel rund um die Masturbation, aber auch um Medienkonsum. Sie lassen sich kulturgeschichtlich bis ins 19. Jahrhundert und weiter zurückführen.“
    Unterrichtet „Porn Studies“ an der Freien Universität Berlin und promoviert über Pornosucht: Madita Oeming.
    Unterrichtet „Porn Studies“ an der Freien Universität Berlin und promoviert über Pornosucht: Madita Oeming. | Bild: privat
  • Kritik am Krankheitsbild: Madita Oeming kritisiert vor allem, dass das Label „Pornosucht“ und der Diskurs drumherum, signalisieren würden, dass Pornos in diesem vermeintlichen Krankheitsbild die gleiche Rolle einnehmen würden wie Drogen oder Alkohol. Deswegen werde sie auch oft mit Abstinenz oder dem 12-Schritte-Programm behandelt. „Alle Schuld wird auf das Medium gelegt, dem Männer hilflos ausgesetzt sind“, meint sie, „ein durch und durch von kulturellen Normen durchsetztes Phänomen wird zum biochemischen Prozess reduziert. Meiner Meinung nach wird dabei der zentrale Aspekt der sexuellen Scham vernachlässigt.“
  • Pornos als Alltagskultur Für Oeming und andere Kulturwissenschaftler sind Pornos „Alltagskultur“. In dem vergleichsweise jungen akademischen Feld „Porn Studies“ untersuchen Wissenschaftler die Pornographie aus einer kulturtheoretischen oder kulturwissenschaftlichen Perspektive. „Pornos sind ein Spiegel unserer Gesellschaft“, sagt Oeming, „ich denke, wir können aus ihnen viel über unsere Sehnsüchte und Grenzen lernen.“