Frau Gebhardt, durch Corona kam das öffentliche Leben zum Erliegen. Hat uns die Krise zu Beginn zum Auftanken und Aufatmen gezwungen?

Ich höre das ganz oft. Viele sagen, dass es ihnen gut getan hat, einen Gang rauszunehmen und langsamer zu werden. Man war auf sich geworfen, auf sein kleines Umfeld. Die meisten haben erst mal geputzt, aussortiert und ausgemistet. Es wurde langsamer und das haben viele sehr genossen. Ich fand es schön, wenn auch gezwungen, eine Atempause zu bekommen. Das ist allerdings nur dann schön, wenn man nicht durch existenzielle Nöte in Bredouille kommt. Dann wird das Zurückgezogen sein zur Last, wenn man nicht weiß, was mit der eigenen Arbeit wird.

Wie haben Sie die Zeit für sich selber genutzt?

Ich bin lesesüchtig (lacht). Ich bin irgendwann dazu über gegangen, auf Englisch zu lesen, weil das langsamer gedauert hat, bis die Bücher leer waren. Ich ziehe mich dann zurück und bilde mich weiter. In Videokonferenzen habe ich Yoga angeleitet und meine Achtsamkeitskurse durchgeführt. 70 Prozent haben es gut angenommen, 30 Prozent konnten damit nichts anfangen. Wenn Blickkontakt fehlt, wird es schwierig, etwas zu spüren. Das ist für mich aber wichtig, was rüber kommt von dem Menschen, der mir gegenüber sitzt.

Achtsamkeit ist besonders seit der Corona-Krise in aller Munde. Ist bei vielen das Bedürfnis stärker geworden, achtsamer zu leben?

Der Druck wird immer höher und jeder nimmt immer schneller mehr Informationen in kurzer Zeit auf. Es gibt weniger Ruhephasen. Wir müssen funktionieren und wollen die Kontrolle über unser Leben haben. Wir haben kein Gefühl mehr dafür, wie viel Pausen wir brauchen. Zum Beispiel einfach mal unter einem Apfelbaum zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren. Doch diese Momente sind ganz wichtig für unsere psychische Gesundheit.

Sabine Gebhardt erklärt, dass Ruhepausen im Alltag besonders wichtig sind.
Sabine Gebhardt erklärt, dass Ruhepausen im Alltag besonders wichtig sind. | Bild: Ganter, Toni

Wie würden Sie Achtsamkeit für jemanden beschreiben, der nichts dazu weiß?

Achtsamkeit ist eine Fähigkeit, die wir alle haben. Es steckt in uns drin. Wir sind eigentlich alle achtsame Menschen. Für viele sind achtsame Momente etwas Besonderes, zum Beispiel eine Geburt. Das sind Momente, in denen wir ganz im Augenblick da sind, uns spüren und es kribbelt. Deswegen kennen wir das alle. Im Alltag schaffen wir das oft nicht. Wir sind mit der Vergangenheit beschäftigt oder mit Sorgen in der Zukunft. Aber Achtsamkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass es einen Fokus auf den Augenblick ist, auf das Jetzt. Wir schauen uns alles an, was jetzt passiert, ohne es zu bewerten.

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Wie kam es, dass Sie sich nach ihrem Chemie-Studium intensiv mit Achtsamkeit auseinandersetzten?

Ich hatte Angst vor dem Tod und wollte wissen, was danach kommt. Daher habe ich Zen ausprobiert. Zen-Meditation ist einfach nur Sitzen und nicht reden. Das war für mich ein Aha-Erlebnis. Nach einer gewissen Zeit habe ich gemerkt, was das mit mir macht und dass es mir richtig gut tut. Seither praktiziere ich das. Seit 2005 gehe ich jedes Jahr zweimal ins Schweigekloster nach Würzburg, in den Schwarzwald oder in die Schweiz.

Bei mir hat sich nach und nach der Wunsch entwickelt, Achtsamkeit anderen Menschen auf eine fundierte Art und Weise beizubringen. Es ist eine Technik, die jeder lernen kann. Das erfüllt mich seither total. Arbeit ist für mich keine Arbeit mehr.

Werden Ihre Achtsamkeitskurse in der Corona-Krise stärker nachgefragt?

Nein, gar nicht. Ich hatte meine achtwöchigen Online-Kurse angeboten, aber da war überhaupt keine Nachfrage. Die Leute waren und sind es auch immer noch mit sich selbst beschäftigt. Das Leben bietet gerade genug Übungsfelder für uns alle. Da haben viele nicht die Kraft, Zeit und Geld in einen Kurs zu investieren.

Bei den Fortgeschrittenen-Kursen ist es anders: Die Nachfrage war so groß, dass die Menschen gesagt haben, dass sie wirklich wieder einen Kurs brauchen. Die Teilnehmer waren dankbar, Impulse von mir zu bekommen und untereinander im Austausch zu sein. Wir haben uns gegenseitig zugehört: Was macht die ganze Corona-Situation mit mir?

Kann jeder Achtsamkeit lernen?

Ja, natürlich. Das lernt man in den Kursen. Zu wissen, was Achtsamkeit ist, reicht nicht. Wir müssen es üben und verinnerlichen. Wir haben viele Fähigkeiten, von denen wir gar nicht wissen, das wir sie haben. Da gehört Achtsamkeit dazu. Diese führt in der Regel zu mehr Gelassenheit und im Umkehrschluss zu mehr Lebenszufriedenheit, auch in schwierigen Zeiten.

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Fällt es vielen Menschen schwer, sich darauf einzulassen?

Allen (lacht). Es ist für keinen leicht. Die Leute lassen sich aber zu einem gewissen Grad darauf ein, weil sie einen Schmerz haben. Das sind Menschen, die einen Burnout hatten oder an Depressionen erkrankt sind. Jeder hat einen Schmerz, egal ob psychisch oder körperlich. Alle wollen eine Balance und Selbstwirksamkeit in sich spüren.

Birgt die momentane Krise eine Chance, sich persönlich zu verändern?

Ja, auf alle Fälle. Schicksalsschläge, die uns im individuellen Leben als Einzelperson passieren, erleben wir nun als Gesellschaft. Wie begegnen wir uns jetzt? Das finde ich total spannend.

Kann Stress durch Achtsamkeit reduziert werden?

Absolut. Durch körperliche Übungen wird Achtsamkeit eingeübt. Die Übungen werden seit Jahrzehnten ausgeübt. Ein gutes Beispiel ist der Dalai Lama. Er meditiert immer noch jeden Tag mindestens vier Stunden. In der Corona-Krise hilft mir das Meditieren sehr. Wenn man Achtsamkeit übt, merkt man, was eine bestimmte Situation mit einem macht. Die Krise löst bei vielen Menschen Ängste oder Wut wegen Anordnungen aus, die man nicht akzeptieren will.

Durch Achtsamkeit lernt man, die Situation zu akzeptieren und dass diese Gefühle da sind. Man versucht, es so wertfrei wie möglich zu akzeptieren. Ich kann mich immer noch entscheiden, dass ich ausflippe. Aber dann tue ich es achtsam.

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Es wurde in verschiedenen Studien nachgewiesen, dass Achtsamkeitsübungen unser Immunsystem stärken, was in Corona-Zeiten von Vorteil ist. Wie funktioniert das?

Man weiß, dass Stress über eine längere Zeit unser Immunsystem belastet. Man hat in einer Studie herausgefunden, dass Achtsamkeitstraining das Immunsystem steigert. Leute wurden dazu eingeladen, an einem Achtsamkeitskurs teilzunehmen. Eine Gruppe nahm gleich an dem Kurs teil, die anderen nicht. Nach den acht Wochen sind beide Gruppen mit dem Grippeimpfstoff geimpft worden. Dabei hat man untersucht, wie gut das Immunsystem auf die Impfung reagiert. Die Personen, die an dem Kurs bereits teilgenommen hatten, waren deutlich mehr geschützt.

Haben Sie Tipps, wie man mehr Achtsamkeit in den Alltag integrieren kann?

Eine einfache Übung ist folgende: jedes Mal, wenn man eine Türklinke anfasst, sich zu fragen: Wo bin ich gerade mit meinen Gedanken? Welche Impulse und Sinneseindrücke habe ich? Zwickt es irgendwo? Muss ich noch irgendwas loslassen? Es geht darum, in dem Moment sich kurz bewusst zu machen, wie man sich fühlt. Dann kann man zum Beispiel durchatmen, an die frische Luft gehen oder ein Glas Wasser trinken.

Eine andere Übung ist Milchflaschen anfassen, egal ob im Supermarkt oder daheim. Es können auch andere Gegenstände sein, die regelmäßig benutzt werden, zum Beispiel eine Zahnbürste. Dabei jedes Mal ganz einfache, bewusste Atemzüge machen. Oder abends im Bett die Atemzüge zählen. Diese einfachen Übungen helfen uns, konzentriert und aufmerksam im Jetzt zu sein.