Schon Anfang Oktober sollten die Waldrappe vom Bodensee in ihr Winterquartier in der Toskana abfliegen. Stattdessen blieben die Vögel in der Region, suchten nach Würmern und genossen die Herbstsonne. Anfang November wurde Johannes Fritz, der das Projekt der Wiederansiedlung der Waldrappe in Überlingen leitet, zunehmend nervös. Würden es die Vögel noch vor dem Wintereinbruch über die Alpen in den Süden schaffen?

Am Wochenende schließlich war das Waldrappteam mit seiner Geduld am Ende und machte ernst. Einen Tag nach dem ersten Schneefall in der Region sammelte Johannes Fritz mit der früheren Ziehmutter der Waldrappe, Anne-Gabriela Schmalstieg, den Großteil der widerspenstigen Tiere auf dem Sportplatz bei Frickingen ein, um sie über die Alpen zu bringen. „Das ging schneller als wir dachten“, sagt Fritz, der mit dieser Maßnahme unnötige Gefahren für die Vögel vermeiden wollte.

Weniger erfahrene Tiere hätten es vielleicht nicht mehr über die Alpen geschafft

18 erwachsene Waldrappe transportierte Johannes Fritz am Sonntag in Umzugskartons über den Reschenpass und ließ sie in der Nähe von Bozen wieder frei. Die Situation war dem Biologen vor dem Hintergrund des herannahenden Winters allmählich zu riskant worden. Bei einem zu späten Abflug hätten es die noch weniger erfahrenen Tiere möglicherweise nicht mehr über die Alpen geschafft. „Wir wollten das nicht ausreizen“, sagt der Biologe.

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„Später müssen sie dann schon selbst zurecht kommen“

„In dieser frühen Phase einer jungen Kolonie ist dieses Management aus unserer Sicht begründet und auch berechtigt“, betont der österreichische Projektleiter. „Später müssen sie dann schon selbst zurecht kommen.“ Noch am Bodensee waren Anfang der Woche die sechs jungen Waldrappe, die im späten Frühjahr in Überlingen geboren waren, und sechs erwachsene Tiere quasi als erfahrener Begleitschutz für die Jungvögel. Sie sollen bis zum Wochenende ebenfalls nach Südtirol gebracht werden.

Auf das gelbe Oberteil und Anne-Gabriela Schmalstieg fliegen die Waldrappe noch immer: Die einstige Ziehmutter lockt die Tiere auf dem ...
Auf das gelbe Oberteil und Anne-Gabriela Schmalstieg fliegen die Waldrappe noch immer: Die einstige Ziehmutter lockt die Tiere auf dem Frickinger Sportplatz für die unterstützte Winterreise nach Südtirol an. | Bild: Waldrappteam

Frühere Ziehmutter lockt Vorhut an und fängt sie ein

Am Samstag hatte Anne-Gabriela Schmalstieg, die die Live-Standorte der besenderten Tiere kennt, die gesamte Vorhut angelockt und eingefangen. Auf den gelben Pullover, die Futterkiste und die Stimme ihrer früheren Betreuerin reagieren die Krummschnäbel auch heute noch, mehrere Jahre nach ihrer Aufzucht. „Bei mir funktioniert das nicht“, erklärt Johannes Fritz: „Ich habe keinen einzigen eingefangen.“

Jungtiere sollen mit Mehlwurm-Mahlzeiten geködert werden

Im Verlauf der Woche wird nun noch Corinna Esterer anreisen, die früherer Kollegin von Schmalstieg als Ziehmutter. Auch auf sie sind zumindest die sechs erwachsenen Vögel noch geprägt. Nicht so einfach wird das Einfangen bei den ersten sechs natürlich aufgezogenen Jungtieren sein, die die Menschen und Betreuer nur noch aus größerer Distanz kennen, seit sie ihren Sender bekommen haben. „Das wird etwas aufwendiger“, ist Fritz überzeugt. Doch werde Corinna Esterer spezielle sanfte Fangeinrichtungen mitbringen und dies mit ihrer Erfahrung im Alleingang schaffen. Durch leckere Mehlwurm-Mahlzeiten können die Tiere in ein Netz gelockt werden, aus dem sie nicht mehr entfliehen können.

Bereit zur Abfahrt: 18 Tiere gelangten im Auto von Johannes Fritz am Sonntag gesund und munter nach Bozen. Die Einzelkäfige waren in ...
Bereit zur Abfahrt: 18 Tiere gelangten im Auto von Johannes Fritz am Sonntag gesund und munter nach Bozen. Die Einzelkäfige waren in Umzugskartons verpackt. | Bild: Waldrappteam

Vögel haben wohl den Zeitpunkt für den Abflug versäumt

„Was ist heute schon normal“, kommentiert Johannes Fritz den künstlichen Eingriff in das Zugverhalten der Waldrappe. „Sie haben wohl den sensiblen Zeitpunkt für den Abflug irgendwie versäumt“, ist der Biologe überzeugt. Sicher hätten Umweltverhältnisse und Temperaturen einen Einfluss auf das Zaudern gehabt, sagt Fritz, will dies aber keineswegs als Indiz mit prognostischem Wert einordnen. „Das kann nächstes Jahr schon wieder ganz anders sein“, sagt der Leiter des Projekts, im Rahmen dessen inzwischen drei Populationen angesiedelt wurden.

„Reason for hope“, Grund zur Hoffnung, ist der Titel des einzigarten Vorhabens und Johannes Fritz gibt die Hoffnung auf weitere Erfolge auch nicht auf. „Was die Vögel angeht, bin ich zuversichtlich“, schlägt er einen Bogen zu der aktuellen Situation: „Weniger optimistisch bin ich bei Corona.“