Die 31 Waldrappe, die seit vielen Wochen fast standorttreu im Ried des Naturschutzgebiets Schwarzer Graben nach Würmern stochern, scheinen den gedeckten Tisch und die Herbstsonne am Bodensee regelrecht zu genießen. In diesem Jahr sind sechs Jungvögel dazu gekommen, die im Verlauf von Mai und Juni an der künstlichen Brutwand bei Goldbach geschlüpft waren.
Abflug in die Toskana ist längst überfällig
Im Grunde ist ihr Abflug in den Süden, um den sie wohl mancher menschliche Zeitgenosse beneiden würde, längst überfällig. Das Winterquartier an ihrer gewohnten Lagune in der südlichen Toskana ist längst von Artgenossen bevölkert und im Vorjahr haben die Waldrappe bereits in den ersten Oktoberwoche die Flatter gemacht. Haben die Tiere ihren Kompass verloren, liegt es am Wetter oder gar am Klima?
Projektleiter ist noch nicht beunruhigt, aber angespannt
„Angespannt“, wie er sagt, ist auch Projektleiter Johannes Fritz in Österreich, „aber noch nicht sonderlich beunruhigt.“ Erst vor einigen Wochen war der Biologe in Überlingen und ließ sich an den senkrechten Molassefelsen abseilen, um mit Erfolg die künftigen Brutnischen für die Waldrappe zu inspizieren. Auch er hoffe täglich auf den Abflug der Vögel, sagt er auf Nachfrage des SÜDKURIER. Allerdings kenne man das Phänomen des verzögerten Abflugs auch von den anderen Brutkolonien. Fritz sagt: „Das kann sich bis Ende November hinziehen.“

Vögel sammeln sich an guten Nahrungsplätzen
Der Start zur Herbstmigration gen Süden beginne jedes Jahr zuverlässig schon Anfang August. „Zu der Zeit verlassen die Vögel den Brutplatz im engeren Sinn und sammeln sich im Umfeld an guten Nahrungsplätzen“, erklärt Johannes Fritz. Dort bleiben sie vorerst und nutzen die reichliche Nahrungsquelle. Soweit laufe dies Jahr für Jahr gleichermaßen ab. „Es ist deshalb davon auszugehen, dass dieser initiale Teil der Migration endogen (hormonell) gesteuert ist mit der Tageslichtlänge als Zeitgeber.“
2014 saßen die Vögel nach einem Wintereinbruch in Österreich fest
Danach werde es allerdings sehr variabel und sei daher auch schwer zu interpretieren. In den vergangenen Jahren habe der Abflug in den Süden bei den Kolonien in Burghausen und Salzburg erheblich variiert – im Zeitraum von Anfang Oktober bis Ende November. „Ein Extremfall war der Winter 2014, wo die Vögel bis in den Dezember nicht abgeflogen sind und dann aufgrund eines heftigen Wintereinbruchs im Land Salzburg festsaßen“, berichtet der Projektleiter: „Wir hatten damals auch erhebliche Verluste.“ Daher bringe ein verzögerter Abflug im Herbst auch das höchste Risiko mit sich, dass Vögel bei einem Wintereinbruch verenden. Allerdings werde dieses Risiko bei der Überlinger Kolonie geringer bewertet, da das Brutgebiet weiter von den Alpen entfernt ist und daher die Vögel bei einem Wintereinbruch weniger betroffen seien.
Verspäteter Vogelzug kann auch mit Klimawandel in Verbindung gebracht werden
„Die Ursache für diese Variabilität ist uns nicht direkt bekannt“, erklärt Johannes Fritz. „Wir haben bislang einfach zu wenig Daten, um das schlüssig zu untersuchen.“ Aber die zunehmende Variabilität und die Verzögerung im Herbst sei durchaus kein spezifisches Phänomen der Waldrappe, sondern ein genereller Trend, der kausal ganz klar mit dem Klimawandel in Beziehung gebracht werde. Fritz: „Die externen Zeitgeber, welche auch immer das genau sind, sind immer weniger zuverlässig und das bereitet Probleme.“
Möglicherweise hat der Nebel Ende Oktober die Vögel am Boden gehalten
Ein ortsspezifisches „Problem“ könne am Bodensee zu den generellen Ursachen dazu kommen. Es gebe hier relativ viel Bodennebel. Das habe möglicherweise die Überlinger Vögel Ende Oktober am Boden gehalten, während viele Vögel in den anderen Brutgebieten losgeflogen seien. „Aber auch die Überlinger Vögel werden fliegen“, ist der Projektleiter überzeugt: „Davon gehe ich aus.“ Es gebe aufgrund der bisherigen Erfahrungen viele Gründe optimistisch zu sein und eigentlich „keinen konkreten Grund für Pessimismus“.
Immer wieder fallen Waldrappe in Italien Jägern zum Opfer
Gefahr droht den Waldrappen jedoch nach wie vor aus italienischen Gewehren. Erst am 26. September wurde wieder ein junger Vogel im Tal des Arno in der Toskana abgeschossen, wie Fritz vor einigen Wochen mitteilte. „Wir gehen davon aus, dass diese hohe Verlustrate bei den Waldrappen auch für andere Vogelarten repräsentativ ist“, erklärt der Biologe: „Wir fordern daher endlich effiziente Maßnahmen gegen dieses sinnlose und illegale Töten!“