Hubert Regenscheit ist Gassenpfleger und Geschichtenerzähler. Was ist er? Gassenpfleger? „Früher war es eine Versicherung, heute ist es Amüsement“, beschriebt Regenscheit sein traditionsreiches Amt. Pointenreich erzählt er und schweift immer wieder ab. Bei ihm entsteht der Eindruck, die Rolle des Geschichtenerzählers sei bis heute relevant, und dass da jemand ist, der von Erkenntnissen früherer Generationen berichtet, der Traditionen vermittelt und dabei unterhält. Nein, der Gassenpfleger ist selbst eine Tradition.
Die Generationen Goldbachs haben ihre Konflikte in den Wirthäusern gelöst: erst im „Kupfernen Becher“, dann im „Wirtshaus zu den Heidehöhlen“ und inzwischen im Restaurant „Basilico“. Wenn möglich monatlich schwätzt Regenscheit dort mit Lehrern, Stollenführern, Touristen und Einheimischen. Im „Wirtshaus zu den Heidehöhlen“ wurde er selbst zum Gassenpfleger. 29 Jahre war er damals und der bisher einzige Regenscheit in diesem Amt. Damals trat der gesamte Vorstand zurück und suchte einen Nachfolger. So wurde Hubert Regenscheit gewählt. Nun würde er die Pflege von Goldbachs Gassen gern in jüngere Hände geben – oder wenigstens auf mehrere Schultern verteilen.

„Lommbolleguschtel“ und „Schofseckel“
Als Einheimischer spricht er Dialekt. Als Geschichtenerzähler ist er lokal verwurzelt. Und wenn er erzählt, sprudeln die Worte nur so aus ihm heraus. Seit 1988 wohne er selbst im Stammsitz seiner Familie väterlicherseits. Irgendwann gegen Mitte des 19. Jahrhunderts habe sein Ururgroßvater das Haus erworben, „vielleicht fehlt auch noch ein Ur“. Gewissheit hat er beim Spitznamen seines Ahnen: „Lommbolleguschtel“. „Hat ihn jemand geärgert, schmiss er ihm einen Lehmflatschen hinterher“, beschreibt er. Das teile er mit seinem Vater, Fritz Regenscheit – auch er war ein „Lommbollguschtel“.

Dann ist da noch die Geschichte von Anfang des 20. Jahrhunderts: „Damals saß ich noch in Abrahams Wurstkessel“, beginnt Regenscheit. Ein Bauer habe den anderen als „Schofseckel“ beschimpft und dabei mit dem Finger auf ihn gezeigt, der Beleidigte soll ihm daraufhin kurzerhand den Finger abgebissen haben. Ein Fall für den damaligen Gassenpfleger. Es sind Ausschnitte des Dorftratschs, der Erzählungen einer Gemeinschaft.
„Empathie geht literweise verloren“
Das Miteinander steht für Regenscheit immer im Zentrum: „Gerade, wenn es gegen Schwächere geht, kann ich die Stacheln ausfahren.“ Was Donald Trump und Elon Musk über die Welt bringen, ist nichts anderes als eine Schmutzkampagne, meint Regenscheit. Zeichen einer geschichtsvergessenen Gegenwart, findet er. „Empathie geht gerade literweise verloren.“

Über die AfD sagt er: „Ich verachte diese blauen Dummschwätzer.“ Und weil er keinen Hehl aus seiner politischen Haltung macht, sei er als Mitarbeiter der Stadtwerke schon mehrfach getadelt worden. Seine „große Gosch“ hätte auch die Aufmerksamkeit sämtlicher Fraktionen des Gemeinderats geweckt. Aber die „Gosch“ passe besser auf seine Terrasse, als den Ratssaal, findet er.
Sein Vater habe ihm viel gelehrt, sagt Regenscheit. Als 16-Jähriger sei der von der Waffen-SS eingezogen worden. Nach drei Wochen an der Front und drei Jahren Kriegsgefangenschaft kam er abgemagert zurück und mahnte seinen Sohn, er solle sich hüten vor denen, die schreien und denen, die in der Kirche in der ersten Reihe sitzen – die vertreten keine christlichen Werte. Hubert Regenscheit kam um den Wehrdienst herum. Aufgrund seiner Sehschwäche wurde er als untauglich eingestuft. Kameradschaft fand er bei der Feuerwehr.
Die Liebe und das Moped
59 Jahre alt ist Regenscheit jetzt. Seine Frau Anke kennt er seit 45 Jahren. Als sie sich das erste Mal trafen, hatte die Polizei einen Mängelbericht an sein Moped geklebt, erzählt Regenscheit. Um die Rechnung zu bezahlen, habe er Zeitung ausgefahren – mit dem Fahrrad. Mit der Nervenzigarette stand er ans bemängelte Moped gelehnt vor der Hauswirtschaftsschule, die Anke besuchte. Eine ihrer Freundinnen sagte zu ihr: „Wenn du ihn nicht nimmst, nehm‘ ich ihn“, schildert Anke Regenscheit. So führt eines zum anderen.

Anke Regenscheit verwaltet die Ferienwohnung. Die Gäste kommen aus Deutschland, den Niederlanden, Brasilien. Manchmal verständigen sie sich nur mit Händen und Füßen. „Sobald du lachst, gehen Türen auf“, sagt Hubert Regenscheit. Er muss es wissen. Er lacht viel, und ihm stehen viele Türen offen.
Sobald es das Wetter zulässt, sitzen sie gemeinsam auf ihrer Terrasse. Das Radio läuft, „aber keine Nachrichten“, betont Regenscheit – keine Probleme wälzen. Er weiß, dass diese Leichtigkeit nicht jedem vergönnt ist. Dazu gern eine Flasche Wein. Wer zu Besuch kommen will, kann sich dazugesellen. Neigt sich der Tag dem Ende, ist meist auch die Flasche leer.
Ein Zimmermann im Parkhaus
Fliesenleger sollte er werden, wenn er nichts anderes finden kann. Zimmermann wurde er. Doch die Arbeit habe ihm nicht allzu gut gelegen, sagt er, dennoch ging auch dieses Verhältnis gut. Sein Ausbilder Herbert Schmon habe später die Balken, Treppen und andere Holzarbeiten im Regenscheitschen Stammhaus gerichtet. Später zwang ihn ein Bandscheibenvorfall zum Berufswechsel. „Ein Glücksfall“, findet er. Heute arbeitet er für das Stadtwerk am See, als technischer Mitarbeiter der Parkhäuser.
Mit fremden Federn schmücken
Kinder hat Regenscheit, aber keine Enkel. Solange seine Nachkommen noch üben, wie er sagt, freut er sich an seinen „Beute-Enkeln“. So nennt er die Kinder seiner Nachbarn. „Manchmal muss man sich mit fremden Federn schmücken“, sagt Regenscheit lachend.
Zur Fasnacht schmückt er sich nicht mit Federn, aber mit Fransen, mit dem Häs der Überlinger Hänsele. Nummer 59 ist er und Ehrenhänsele. Seit 2020 konzentriere er sich jedoch mehr auf seine Auftritte mit der Drehorgel, die er von seiner Mutter geerbt hat, um Spenden zu sammeln. Eine von Raffin aus Überlingen. Gerne würde er einmal am Klavier sitzen, „aber es hat keinen Wert“, sagt er. Er könne nicht tanzen, nicht musizieren, aber er könne erzählen.