Gemach, gemach! Die Waldrappe aus der Überlinger Kolonie hatten es nicht rechtzeitig über die Alpen ins Winterquartier, die Laguna di Orbetello in der Toskana, geschafft. Das veranlasste die ‚Bild‘-Zeitung zur Bezeichnung „Deutschlands dümmste Vögel“. 17 Tiere mussten sogar nahe der Stadt Chur im Schweizer Kanton Graubünden eingefangen und in den Südalpenbereich gebracht werden, wie Projektleiter Johannes Fritz am 24. November mitteilte. Grund genug für das Boulevardblatt, die Intelligenz der Vögel infrage zu stellen.
Nun stellt sich heraus: Die Überlinger Waldrappe hatten in ihrem Dilemma – sie starten aufgrund des Klimawandels zu spät zur Herbstmigration und ihnen fehlt deshalb die Thermik, um die Alpenpässe zu überfliegen – großes Glück. Denn Zyklon Denise brachte am 21. und 22. November so schwere Unwetter mit sich, dass es in der Toskana zu großräumigen Überschwemmungen und Sturmschäden kam. Auch das WWF-Schutzgebiet wurde heftig getroffen. „Das verursachte Rekordverluste, wie wir sie in der gesamten Projektlaufzeit aufgrund eines einzigen Ereignisses noch nie verzeichnen mussten. 27 Waldrappe verloren in einer einzigen Nacht ihr Leben“, teilt das Waldrappteam mit.

Großteil hält sich während Sturm nördlich der Alpen auf
Während für die insgesamt drei Kolonien in Bayern und Österreich sowie eine freifliegende Kolonie im Friaul Verluste zu beklagen sind, traf es keinen einzigen Vogel aus Überlingen. Das Waldrappteam schreibt: „Aus der Kolonie Überlingen ging kein Vogel verloren, da sich der Großteil von ihnen zum Zeitpunkt des Unwetters noch nördlich der Alpen aufhielt.“
Nachvollziehen können die Wissenschaftler das so genau aufgrund der GPS-Sender der Tiere in der Laguna di Orbetello. Laut Mitteilung wurden bislang nur drei tote Vögel in dem schwer zugänglichen Gelände gefunden. Von den übrigen Tieren sind die letzten, teils kilometerweit verstreuten Positionen der GPS-Sender bekannt.
Ehemalige Ziehmutter geht mit Spürhund auf die Suche
Corinna Esterer, einst Ziehmutter in der Überlinger Kolonie, wird mit einem ausgebildeten Spürhund nach den Vögeln suchen. „Außerdem haben wir Hilfe von Spezialisten angefordert, die mit Metalldetektoren nach den GPS-Sendern suchen werden. Es besteht aber keine Hoffnung, dass von diesen Vögeln noch welche am Leben sind“, heißt es weiter. Das Waldrappteam geht davon aus, „dass die Vögel während des Sturms von ihren Schlafbäumen in der Oase aufgeschreckt, vom Wind erfasst und durch Traumata infolge von Kollisionen getötet worden sind“. Die Autopsie von zwei getöteten Vögeln bestätige diese Annahme.

Die Wildpopulation besteht nach diesen Verlusten noch aus rund 195 Vögeln aus den vier migrierenden Brutkolonien. Zudem haben sich zusammengenommen 13 Jungvögel aus freifliegenden Kolonien der Gruppe angeschlossen. Die Biologen gehen davon aus, dass sich die Population von den Verlusten durch den Zyklon erholen wird. „Allerdings wird es in diesem Jahr erstmals zu keinem Wachstum der Population kommen“, berichtet das Waldrappteam. Sorge bereitet den Experten, dass die Häufigkeit derlei Umweltkatastrophen aufgrund des Klimawandels voraussichtlich zunehmen wird.