Gute Schriftsteller sind unberechenbar in Werken und Worten – und das trifft selbst auf Dankesreden zu, wie Monika Helfer bewies, die am Samstag den Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen erhielt. „Erlauben Sie mir am Anfang eine kurze Schweigeminute für die vielen gefällten Platanen, dann beginne ich mit meiner Rede.“ Mit diesem ersten Satz sorgte die Vorarlbergerin nicht nur bei Oberbürgermeister Jan Zeitler für verblüfftes Aufblicken. Auf dem Weg zur Preisverleihung, die nicht wie sonst im Kursaal, sondern auf der Seebühne der Landesgartenschau (LGS) stattfand, hatte Helfer erfahren, dass für die Gestaltung des Uferparks einst bestehende Bäume weichen mussten.

Festakt hätte weit größeres Publikum verdient gehabt
Dass die 43. Literaturpreisverleihung ausnahmsweise auf der Seebühne stattfinden solle, hatten Stadt und Gemeinderat schon vor Corona beschlossen. Ursprünglich war sie, ebenso wie die LGS, bereits für 2020 vorgesehen. Ungewöhnlich war bei der jetzigen Preisverleihung aber auch, dass sie nur in Verbindung mit einem Ticket für die Landesgartenschau zugänglich war – und nicht, wie üblich, kostenfrei. Lediglich für Beteiligte hatte die Stadt gratis einzelne „Aktivenkarten“ ausgegeben. Die Zuschauerränge waren denn mit insgesamt nur rund 60 Personen auch sehr spärlich besetzt. Bei den früheren Festakten war der Kursaal stets gut gefüllt gewesen. Auch Monika Helfer, ihre Laudatorin Ulrike Längle und der Jazz-Klarinettist Lajos Dudas, der den Festakt musikalisch begleitete, hätten ein weit größeres Publikum verdient gehabt.

OB Jan Zeitler verliest dieselbe Rede wie 2018 und seine Vorgängerin 2016
Alles wie gehabt, galt hingegen für die Ansprache des Oberbürgermeisters. Jan Zeitler verlas dieselbe Rede über den Sinn von Literaturpreisen und das Wesen der Sprache, die er bereits bei der letzten Preisverleihung 2018 und die davor seine Vorgängerin Sabine Becker 2016 gehalten hatte.
Aber ist es laut dieser Rede ja auch das Metier von Schriftstellern, uns in puncto Sprache überraschen zu lassen – und das taten sowohl Monika Helfer als auch ihre Laudatorin, die Bregenzer Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Ulrike Längle, ausgezeichnet.

Ulrike Längle: Helfers Erfolgsroman „Die Bagage“ gab den Ausschlag
Längle hob hervor, Helfer bekomme den Preis für ihr umfangreiches Gesamtwerk. Doch bei der Entscheidung der sechsköpfigen Jury, zu der Längle als einzige Frau zählt, ihn Helfer zuzuerkennen, habe ihr Erfolgsroman „Die Bagage“ den Ausschlag gegeben. Er erzählt die Geschichte von Helfers bettelarmen Großeltern und deren Kindern, darunter ihre Mutter, die von einer unbarmherzigen Dorfgemeinschaft als uneheliches Kind verschrien wird.
Kunstvoll aufgebaute Erzählung auf 159 Seiten
Bei dem Roman mit gerade mal 159 Seiten handelt es sich laut Längle um „eine höchst kunstvoll aufgebaute Erzählung“. Aus dem, was man über die Familie sicher gewusst und dem, was Helfer durch ihre eigene Fantasie ergänzt habe, „entsteht so ein differenziertes und vielschichtiges Erzählgeflecht“. Längle zitierte Helfer: „Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. Erst wenn man ein Drama draus macht, herrscht Ordnung.“ Und, folgerte Längle, „dieses Erzählprinzip ist der schönste Beweis für die wirklichkeitsformende Macht der Literatur.“
Längle unterstrich: „Präzision, Differenziertheit, Lakonie und Poesie sind die herausragenden Merkmale von Monika Helfers Erzählen.“ Längle betonte aber auch: „Und trotzdem sind es keine nüchternen Berichte, denn der Autorin gelingt es, mit wenigen präzisen Strichen die Figuren zu lebenden Menschen werden zu lassen.“
Wie gut Monika Helfer das kann, bewies sie anschließend gleich doppelt. Zum einen, indem sie am Schluss, „auf Wunsch“, die ersten Seiten der „Bagage“ vorlas, die tatsächlich mit der Aufforderung beginnen, ein Bild zu zeichnen: „Hier, nimm die Stifte...“.

Ihre Rede ist ein doppelbödiges Stück Literatur
Zum anderen mit ihrer Dankesrede davor, die sie nach der Schweigeminute für die Platanen hielt. Diese Rede ist vielmehr ein doppelbödiges Stück Literatur, einer von Helfers ebenso präzisen wie eindringlichen Prosatexten. Sie erzählt darin von der Arbeit an ihrem ersten Buch und den Begleitumständen – sie lebte in einem Dorf im Bregenzerwald mit zwei kleinen Kindern und ihrem ersten Mann, der viel auf Reisen war. Doch gleichzeitig beschreibt sie den Wesenskern ihres Schreibens mit Sätzen wie: „Ich wusste damals nicht, was ich schreiben wollte, wusste nur, dass ich vorsichtig mit der Sprache umgehen musste.“ Und: „Ich schrieb, was ich sah.“ Und: „Ich dachte über das wirkliche Leben nach und darüber, wie es zu beschreiben wäre.“
„Über meinen Bruder, mit dem ich eng verflochten war, der es leider in seinem dreißigsten Jahr nicht mehr aushielt auf der Erde und sich das Leben nahm.“Monika Helfer kündigte den dritten Band über ihre Familie an
Mit einem Satz aus der Wirklichkeit, der wie ein Peitschenhieb sitzt, endete ihre Rede. Sie kündigte den dritten und letzten Band über ihre Familie an, „über meinen Bruder, mit dem ich eng verflochten war, der es leider in seinem dreißigsten Jahr nicht mehr aushielt auf der Erde und sich das Leben nahm.“ Die wahre Wucht schnörkelloser Sätze: Das ist Monika Helfer pur.