Am Abend des 5. September ist Herbert Dreiseitl in Singapur, gedanklich aber in Überlingen. Freunde berichten ihm vom Starkregen und schicken Videos überfluteter Straßen auf WhatsApp. Dabei musste er an den Starkregen im Juni 2019 denken. Damals kamen in den Abendstunden ähnliche Regenmassen vom Himmel und fluteten Teile der Überlinger Innenstadt. Auf Höhe des Zentralfriedhofs trat der Nellenbach über die Ufer, lief beim Busbahnhof zusammen und stürzte hinunter zu den Bahnschienen.
Man habe auch dieses Mal Glück gehabt, dass keine Menschen verletzt wurden, sagt Dreiseitl. „Zum Glück kam der Starkregen auch dieses Mal zu einer Uhrzeit, als weniger Menschen unterwegs waren.“ Das sei noch mal ein „Schuss vor den Bug“ gewesen. Die Stadtverwaltung und der Gemeinderat müssten nun handeln.

Starkregen-Vorsorge hierzulande noch Neuland
Herbert Dreiseitl beschäftigt sich als Stadtplaner und Landschaftsarchitekt seit Jahrzehnten mit dem Schutz vor Starkregenereignissen. Der Stadtrat hat mit seinem Planungsbüro zahlreiche Projekte umgesetzt, die heute weltweit als Vorbild dienen.
Unter anderem hat er das Konzept der Schwammstadt geprägt, das in den Überlinger Baugebieten Südlich Härlen und dem Kramer-Areal künftig zum Einsatz kommen soll. Bei diesem Konzept wird Regenwasser auf lokalen Flächen gespeichert, anstatt es in Kanälen abzuführen. Auf diese Weise kann Regenwasser zurückgehalten werden und langsam versickern, weil Rückhalteflächen wie Wiesen oder Feuchtgebiete das Wasser wie ein Schwamm aufsaugen.
Das Prinzip hat er beispielsweise in dem Stadtteil Scharnhauser Park in Stuttgart-Ostfildern umgesetzt.


Einen ähnlichen Ansatz findet sich beim Bishan-Ang Mo Kio Park in Singapur. Zwar seien die tropischen Regenfälle dort stärker als am Bodensee, dieses Beispiel zeige aber, wie Regenwasser im Landschaftsraum wirkungsvoll zurückgehalten werden könne, sagt Dreiseitl.


In Singapur, wo der 69-Jährige als Gastdozent lehrt, sei der Schutz vor Starkregen seit Jahren im Bewusstsein der Menschen verankert. In Deutschland müssten sich Verwaltungen und die Bevölkerung im Zuge der Klimakrise vergewissern, dass Starkregenereignisse häufiger auftreten.
Diese Lösungen sieht er für Überlingen
Für Überlingen liege die Herausforderung an der Hanglage und den Zuflüssen wie Nellenbach, Killbach oder Nußbach. Regenwasser sammelt sich hier und bewegt sich durch die Innenstadt in den See. Wenn hier besonders viel zusammenkomme, könnten die Bäche im Stadtgebiet über die Ufer treten.
Dreiseitl schlägt deshalb vor, bereits im Umland auf landwirtschaftlichen Flächen oder in Mulden den Ablauf von Regenwasser zu verlangsamen und Sammelflächen zu gestalten. Auf diese Weise könne man das Wasser „Kaskaden-artig“ verlangsamen, die Steigung sei dabei kein Hindernis. Denn: „Wenn das Wasser in die Stadt fließt, ist es meist zu spät.“ Dafür müsste die Stadt mit Eigentümern Lösungen suchen oder Flächen ankaufen. „Es braucht nur den Willen der Verwaltung.“

Der Stadtplaner sagt, dass man nicht nur auf das Kanalsystem setzen solle. „Unsere heutigen Systeme in Überlingen sind noch aus den 1950er-Jahren und müssen an heutige Gegebenheiten angepasst werden.“
Eine Schwachstelle im Stadtgebiet sei beispielsweise der Busbahnhof und die Zimmerwiese, wie die Regenereignisse 2019 und 2024 gezeigt hätten. Zwar fließe das Wasser hier mehrheitlich über den Nellenbach wieder ab, das Gefälle und die versiegelte Fläche könne aber für Probleme sorgen.
Warum die Mitarbeit der Bürger so wichtig ist
Bei der Vorsorge sei es wichtig, dass Verwaltungen nicht von oben herab entscheiden. „Wir brauchen das Verständnis und die Mitarbeit der Bevölkerung.“ Immerhin gehe es um massive Umstrukturierungen des öffentlichen Raums. Außerdem kämen oft gute Ideen von den Bewohnern. Seine Erfahrung sei, dass die Menschen viel zugänglicher seien als es einige Verwaltungen denken.
Dieses Thema wird bleiben
Für Dreiseitl steht fest, dass das Thema Starkregen-Vorsorge nicht so schnell verschwinden werde, „egal, wer künftig im Rathaus sitzt“, sagt er. Ohnehin arbeite die Stadt Überlingen bereits an einem „umfassenden Starkregen-Risikomanagement“, wie es zuletzt in einer Pressemitteilung hieß. Der Ausschuss für Bauen, Technik und Verkehr hatte dieses Konzept bereits 2021 in Auftrag gegeben.
Die Pläne sollen Ende 2024 im Gemeinderat vorgestellt und anschließend veröffentlicht werden. Dreiseitl hält „naturbasierte Lösungen“ für sinnvoll, wo Regenwasser im Landschaftsraum gestaut und gespeichert werden könne. „Man sollte nicht nur auf unterirdische Lösungen setzen.“