Wer derzeit durch die Bodenseeregion fährt, wird sicher einem der vielen Apfelzügle begegnen, in denen die zigtausend Tonnen schwere Ernte aus den großflächigen Obstplantagen zu den Verwertungsstellen rollt. Im Schatten dieser Betriebsamkeit steht eine im Niedergang begriffene Form der Obstkultivierung: das Hochstammobst auf den Streuobstwiesen. Sie sind selten geworden, das Bild bestimmen ungepflegte, oft verdorrte, verwachsene Bäume, deren Früchte an den Zweigen oder auf dem Boden verrotten. Das Problem ist erkannt, es gibt zahlreiche öffentliche und private Initiativen zur Bekämpfung dieses Verfalls.
Gelbes Band signalisiert, dass hier kostenlos geerntet werden darf
Unter den Kämpfern ist Wilfried Rupp. Der 73-Jährige, von Beruf Apotheker und eine zeitlang Ortschaftsrat des Meersburger Teilorts Baitenhausen, hat sich im Ruhestand ganz dem Naturschutz verschrieben. Derzeit treibt er das Projekt „Gelbes Band“ voran. Die Idee dahinter: Eigner von Streuobstwiesen, die ihre Ernte nicht mehr selber einbringen können oder wollen, markieren ihre Baumstämme mit einem gelben Band und signalisieren so, dass jedermann sich dort an den Früchten kostenlos und in haushaltsüblichen Mengen bedienen darf. Wilfried Rupp geht es hier zunächst um die Wertschätzung von Lebensmitteln, denn allzu viel Obst verrotte an und unter den Bäumen.
In Baitenhausen flattern bereits gelbe Bänder an Bäumen
Seine Ansprechpartner sind vorrangig der Bodenseekreis und die Städte und Gemeinden, auf deren Gemarkungen sich recht viele Streuobstwiesen befinden. Aber auch private Baumbesitzer sind zum Mittun aufgerufen. Anfang September konnte Rupp das Umweltschutzamt des Bodenseekreises dazu bewegen, bei allen Kommunen schriftlich für die Aktion zu werben. Inzwischen flattern gelbe Bänder in Baitenhausen, mit weiteren Bürgermeistern ist Wilfried Rupp im Gespräch.
Wilfried Rupp hofft auf Mitstreiter und Zuspruch aus den Rathäusern
Aber im Alleingang könne er die Sache organisatorisch nicht voranschieben, erklärt er. Er hofft auf Mitstreiter und vor allem auf Wind aus den Rathäusern für die gelben Bänder. In Norddeutschland sehe man die Bänder bereits an vielen Orten, im Ländle war der Landkreis Esslingen 2019 Vorreiter und soeben hat sich auch der Biberacher Kreis der Sache angenommen. Das verrottbare gelbe Band kann im Internet oder über die Forstbetriebe preisgünstig erworben werden.
80 Prozent weniger Streuobstwiesen als in den 50er Jahren
Wilfried Rupps Anstrengungen stehen in dem größeren Zusammenhang der Rettung der Streuobstwiesen. Das gelbe Band solle nicht nur helfen, die Vergeudung von Lebensmitteln zu vermeiden, sondern auch weithin leuchtend auf die Gefährdung der Hochstammobstkultur aufmerksam machen. Denn dort sei die Situation schlicht dramatisch. In keinem Land Europas und in keinem der 16 deutschen Bundesländer sei es gelungen, den Rückgang der Streuobstwiesen um rund 80 Prozent seit den 1950er Jahren zu stoppen. Das sei ein Armutszeugnis für die Politik, sagt Rupp, und einer der Gründe für das Insekten- und Artensterben, besonders in einem Bundesland mit den immer noch größten zusammenhängenden Streuobstbeständen Europas.
Rupp: Streuobstwiesen sind Niederstammanlagen ökologisch turmhoch überlegen
Neben ihrem landschaftsprägenden Charme sei es die überragende ökologische Bedeutung der Streuobstwiesen, mit der sie den riesigen Niederstammanlagen turmhoch überlegen seien. Mit großem Enthusiasmus arbeitet Wilfried Rupp gegen diese Entwicklung an, und er argumentiert durchaus moralisch: Alle Menschen stünden, unabhängig von Eigentums- und Verwertungsinteressen, in der Verantwortung, die Natur auch für künftige Generationen lebenswert zu erhalten.

Die Zeit läuft den Rettern der Streuobstwiesen davon
Eher nüchtern sieht Thomas Hepperle die Lage. Der frühere Leiter des Landwirtschaftsamtes beim Kreis Konstanz hat sich über Jahre hinweg auch im Bodenseekreis den Ruf eines „Obstbau-Papstes“ erworben. Zwar gebe es staatliche Förderprogramme sowie die Initiativen von Naturschutzverbänden und örtlichen Aktivisten. Aber die Zeit läuft den Rettern davon.
Die Pflege der Bäume ist aufwendig und lohnt wirtschaftlich nicht
Wesentliche Gründe seien ökonomischer Art: Die sehr arbeitsaufwendige Ernte und Pflege der Bestände lohne sich wirtschaftlich schon seit langem nicht mehr. Nur noch wenige, meist kleinere Mostereien wie die Firmen Kopp in Obersiggingen oder Schäfer in Stahringen seien noch auf Streuobstvermarktung ausgerichtet. Zudem drückten billige Konkurrenzlieferungen aus Osteuropa auf den Markt. Und welcher Verbraucher kaufe Hochstammäpfel, wenn gleich daneben die makellos aussehenden Produkte aus den Plantagen zum halben Preis zu haben seien? Das zweite große Problem sei der kritische Vitalzustand vieler Bäume. Mistelbewuchs, Krankheiten und fehlende Pflege hätten den Beständen ebenso zugesetzt wie die Klimakrise mit Trockenperioden im Frühjahr und sommerlichen Hitzewellen.
Thomas Hepperle hält eine großräumige Rettung der Wiesen nicht mehr für möglich
Hepperle ist deshalb skeptisch. Mit fröhlichen Ernteausflügen im Herbst sei es nicht getan. Solche Flächen müssten gemäht werden, die Bäume brauchten einen fachmännisch angeleiteten Schnitt. Eine großräumige Rettung der Wiesen hält Thomas Hepperle nicht mehr für möglich. Stattdessen setzt er auf den Erhalt der wenigen letzten geschlossenen Streuobstbestände im Kreis, etwa zwischen der Birnau und Walpertsweiler nahe Bonndorf. Dazu hat sich Hepperle, stellvertretender Vorsitzender des Vereins zur Erhaltung der Kulturlandschaft Hödingen, wirkungsvoll vernetzt: mit der Unteren Naturschutzbehörde im Landratsamt, mit der Heinz-Sielmann-Stiftung und mit dem Überlinger Grünflächenamt. Wie Wilfried Rupp ist auch Thomas Hepperle ein Idealist: „Wir wollen unseren Nachkommen noch ansatzweise zeigen können, wie wundervoll diese Streuobstkultur am Bodensee einmal war.“